Kann ich gleich zurueckrufen
was zu tun war.
Meine Mutter hat nie viel über die Ehe meiner Großeltern gesagt, aber ich denke, sie sah meine Großmutter als Gefangene meines Großvaters, die ihm bereitwillig die Socken wusch und die Taschentücher bügelte. Mein Großvater hatte zu seinen Kindern ein ähnliches Verhältnis wie zu seinen Uhren: Sie sollten hübsch aussehen und möglichst nicht kaputt gehen, sprich, sie sollten seinen Vorstellungen entsprechen und möglichst nicht davon abweichen. Dass meine Mutter mit ihm zusammen die gelbe Uhr, die bei uns im Kinderzimmer hängt, gebaut hat, ist wohl eine Ausnahme gewesen in Sachen Vater-Kind-Aktivitäten. Und ich bin mir sicher, der Vorschlag stammte von ihm.
Ich mag keine Uhren – die gelbe Uhr ist eine Ausnahme –, ich trage auch keine Armbanduhr. Dafür habe ich mein Handy. Das gleichzeitig mein Kalender und mein Notizblock ist. Ich notiere: Uhr aufziehen. Das habe ich heute Morgen vergessen, vor lauter Kind antreiben und pünktlich loskommen. Dann klicke ich in meinen Handykalender. Nichts vergessen, nur die Uhr.
Meine Mutter hat die Uhr mit siebzehn Jahren gebaut, mit achtzehn ist sie von zu Hause ausgezogen und hat studiert. Als sie schwanger wurde mit mir, war sie dreiunddreißig, hatte längst Fuß gefasst im Berufsleben. Sie wollte nie Kinder haben, hat sie mir mal gesagt, wurde dann aber durch mich eines Besseren belehrt. Sie wollte auch nie heiraten. Da ist sie konsequent geblieben: Sie hat zwar mit meinem Vater zusammengelebt bis zu seinem Tod im vergangenen Jahr, geheiratet hat sie ihn aber nie. Sie nennt Ehen »den von Romantik getriebenen Verlust von Freiheit«. Auch meine Ehe. Obwohl sie meinen Mann schätzt.
Der Bus hält vor dem Bürohaus. Ich stecke das Handy in meine Tasche. Es hat nicht geklingelt. Irgendwie bin ich erleichtert und enttäuscht zugleich. Erleichtert, weil mein Kleiner doch nicht krank ist. Enttäuscht, weil ich insgeheim eine Möglichkeit gesehen hatte, auszubrechen aus dem Büroalltag, auf den ich heute keine Lust habe. Mein krankes Kind zu pflegen wäre die perfekte Ausrede dafür gewesen, nicht zur Arbeit zu gehen. Tika, fällt mir da wieder ein. Klingt wirklich geheimnisvoll. Warum er sich wohl so genannt hat? Ich mag den Namen, denke ich, und steige aus dem Bus. 8:37 Uhr. Ich muss auf die andere Straßenseite, aber die Ampel ist rot. Ich drücke auf den Knopf und warte. Mir fällt ein, dass mir meine Mutter immer Schokoladenkekse brachte, wenn ich krank war. Oder Kummer hatte. Als ich mit sechzehn meinen ersten Liebeskummer hatte, hat sie mich auch mit Keksen getröstet.
Meine Mutter hat sich früh von ihrer großen Familie abgenabelt. Sie hat sich noch als Schülerin um ein Stipendium bemüht, weil sie ihre Familie nicht um Geld fürs Studium bitten wollte. Auch als mein Vater krank wurde, hat sie mit der Krankenkasse gestritten, um die maximale Unterstützung herauszuholen. Sie sagt oft, sie will nur das haben, was ihr zusteht. Nicht mehr.
Trotzdem hat meine Mutter nie Netzwerke gebildet. Die waren ihr immer zuwider, weil sie sie an ihre große Familie erinnert haben. Und sie wollte eben nie heiraten. Ich bin da anders, sehe meinen Mann nicht nur ganz romantisch als meinen Geliebten, sondern auch als meinen Partner. Wir sind ein Team, auf Augenhöhe.
Sind wir das wirklich?, frage ich mich, als ich auf das große Bürohaus zugehe. Haben wir die Putzfrau auch in seinem Interesse? Oder nur, weil ich aufgrund meiner Berufstätigkeit keine Zeit mehr habe, die Böden zu wischen und die Toilette zu putzen? Ich kann mich nicht erinnern, wie wir uns den Haushalt vor der Geburt meines Sohnes aufgeteilt haben. Einen festen Putztag gab es nicht. Und einen geregelten Putzplan auch nicht. Wahrscheinlich hat jeder das gemacht, was gerade als dringend notwendig erkannt wurde. Ich habe mehr gewischt. Mein Mann hat mehr Staub gesaugt, glaube ich. Teamplay halt.
8:40 Uhr. Ich warte auf den Aufzug, den Nach-oben-Knopf habe ich schon zweimal gedrückt. Neben mir stehen zwei Kolleginnen aus der Grafikabteilung. Ich begrüße sie, bin aber so in meine Gedanken vertieft, dass es mir erst im Aufzug auffällt, dass sie tuscheln. Und zwar über meine junge Kollegin. Um 8:42 Uhr bin ich in meinem Büro, zwei Minuten zu spät. Die junge Kollegin sitzt bereits an ihrem Schreibtisch. Ich wünsche einen guten Morgen und schaue sie dabei etwas genauer an: Ist etwas anders an ihr? Sie wirkt wie immer, ein wenig blass vielleicht. Ich kontrolliere mein Handy. Keine Anrufe.
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