Kann ich gleich zurueckrufen
Ich lege meine Tasche auf den Tisch und schalte meinen Rechner an. Dann bringe ich die Präsentation, die ich am Abend zuvor zu Hause fertig gemacht habe, in die Grafik. Das Handy nehme ich mit.
Gegen neun kommt die ältere der beiden Grafikerinnen in unser Büro. Sie ist Ende fünfzig, hat eine erwachsene Tochter, die in Frankreich lebt, und ein klares Feindbild: Frauen mit Kindern in glücklichen Beziehungen. Ihr Mann hat sie verlassen, als sie dreiundzwanzig war und ihre Tochter drei. Erst als die Tochter mit neunzehn als Au-pair nach Paris gegangen ist, hat die Grafikerin wieder angefangen zu arbeiten. Vorher hat sie von den Unterhaltszahlungen ihres Exmannes gelebt. Die sie heute noch als ein paar lausige Kröten abtut. Sie ist gut im Nörgeln, aber nicht so gut am Computer. Ihre Layouts sind konservativ, vielleicht sogar altmodisch, treffen aber fast immer den Geschmack des Vorgesetzten. Unser Vorgesetzter ist nicht ihr erster Chef hier, sie ist seit fast zwanzig Jahren in der Abteilung, die dienstälteste Mitarbeiterin. Die andere, die jüngere Grafikerin, ist ihr unterstellt. Sie ist seit etwa fünf Jahren hier. Und bewältigt eigentlich die ganze Arbeit, vor allem die am Computer. Was das gute Verhältnis der beiden aber nicht stört.
Die ältere Grafikerin hat einen Becher Kaffee aus dem Automaten in der Teeküche dabei; der Duft erfüllt den Raum. Sofort steht meine Assistentin auf und verlässt das Büro. Die Grafikerin lächelt und beugt sich zu mir. »Wenn eine Frau plötzlich keinen Kaffee mehr mag, dann ist eigentlich alles klar.« »Wieso?«, frage ich ganz unbedarft. »Na, ein Braten in der Röhre.« Die Grafikerin grinst. Ich sehe sie an: »Mir ist da nichts bekannt.« Dann frage ich nach den Entwürfen für die Präsentation, die ich am Abend zuvor fertig gemacht habe. »Die Textvorlage liegt auf Ihrem Schreibtisch. Ich brauche bis heute Mittag ein paar Skizzen«, sage ich kurz.
Die Grafikerin geht aus dem Raum. Ich kontrolliere mein Handy. Keine Anrufe. Dann nehme ich mir die Abrechnung einer Fotografin vor, die eine Imagekampagne für ein Firmenprojekt gestaltet hat. Ich muss mehrere Telefonate führen, mit der Fotografin, der Honorarabteilung und dem Sekretariat des Vorgesetzten, da die Abrechnung das von mir kalkulierte Budget sprengt. Zwischendurch kontrolliere ich immer wieder mein Handy, ob nicht doch ein Anruf aus dem Kindergarten gekommen ist, den ich vielleicht verpasst haben könnte.
Um 10:27 Uhr kommt die jüngere Grafikerin in mein Büro und will Details für den Druck der Broschüre besprechen. Sie kaut wieder Kaugummi. Und hat einen Becher Kaffee in der Hand. Die Szene von zuvor wiederholt sich: Meine Assistentin verlässt den Raum. Die Grafikerin grinst. Ich weise sie darauf hin, dass wie am Vortag vereinbart bis 14:30 Uhr alle Druckunterlagen vorliegen müssen und dass ich das fertige Layout für die Broschüre spätestens in einer halben Stunde haben will. Wir gehen ihren Entwurf gemeinsam durch, ich bitte sie um Detailänderungen an einigen Stellen. Pünktlich um 11:00 Uhr kommt sie mit dem fertigen Layout wieder zu mir. Ich überprüfe noch einmal die Rechtschreibung und bringe die Unterlagen dann zum Vorgesetzten. Er ist nicht am Platz, ich hinterlasse eine Nachricht bei seiner Sekretärin. Auf dem Rückweg in mein Büro kontrolliere ich wieder mein Handy. Keine Anrufe vom Kindergarten.
Zwei Stunden später, als die meisten aus dem Büro in der Mittagspause sind, packe ich mein Pausenbrot aus. Die junge Kollegin sitzt an ihrem Schreibtisch und kaut an einer Reiswaffel. »Geht es dir heute nicht so gut?«, frage ich. »Doch, doch, alles in Ordnung«, sagt sie.
Ich frage nicht weiter. Die Reiswaffeln sprechen Bände – in den ersten Wochen meiner Schwangerschaft habe ich mich fast ausschließlich davon ernährt, weil ich unter starker Übelkeit litt. Aber abgesehen von der Übelkeit war ich so glücklich, dass ich dachte, alle Menschen müssten bemerken, wie sehr ich strahle. Ein Kind, ein Kind, ein Kind! Trotzdem war ich oft gehemmt, meine Freude mit anderen zu teilen. Aus Angst vor einer Fehlgeburt, habe ich mir immer gesagt – vor der dreizehnten, vierzehnten Woche kann ja so viel passieren. Doch eigentlich war die Angst davor nur vorgeschoben. Tatsächlich hatte ich damals viel mehr Angst, abgestempelt zu werden. Auch eine von »denen« zu sein, eine dieser werdenden Mütter, die sich von Fenchel-Kümmel-Anis-Tee und eben diesen geschmacksneutralen Reiswaffeln
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