Kannst du mir verzeihen
Jahr annahm.
Für Hanny war das Illustrieren ein Lebenselixier. Sie brauchte es wie das Atmen, ohne konnte sie nicht leben. Es war für sie das reine Glück.
Aber heute konnte sie sich nicht konzentrieren. In den letzten vier Tagen hatte sie den Radiergummi so oft gebraucht wie in den letzten vier Jahren nicht mehr.
Seufzend legte sie den Stift ab, rollte auf dem Hocker zurück, weg von der Staffelei und der fehlerhaften Zeichnung. Sie betrachtete die Auslese an Radiergummis â ein weiterer von Hannys Sammlerspleens â im Regal und überlegte, welchen von ihnen sie nehmen sollte. Vielleicht den, der aussah wie ein Bethmännchen? Kaum hatte sie »Bethmännchen« gedacht, schoss ihr der Gedanke an »Frühstück« durch den Kopf.
Der Hunger war eine seltsam unberechenbare GröÃe, wenn es einem emotional schlecht ging. Entweder war er ein piepsendes Mäuschen oder ein brüllendes Monster, dazwischen gab es offenbar nichts. Vor zehn Sekunden noch hätte sie keinen Bissen herunterbekommen, und jetzt hatte sie das Gefühl, seit Wochen nichts gegessen zu haben und selbst von einem ganzen Brotlaib und einem Pfund Butter nicht satt werden zu können.
Auf dem Weg in die Küche konnte sich es sich einfach nicht verkneifen, die Haustür zu öffnen. Als sie es sah, begann ihre Unterlippe zu beben. Vergessen war der rumorende Magen.
Eine Weile stand sie einfach nur da und sah es sich an.
Genau wie gestern und vorgestern.
Eingepackt in dasselbe Goldpapier, gebunden mit dem gleichen Chiffonband.
An dem Band hing eine Karte. Schon bevor sie hinsah, wusste sie, dass die Zahl Vier darauf stehen würde.
Was heute wohl drin war?
Was kam nach Blumen, Pralinen und Parfum?
Schmuck vielleicht, wenn er sich an die üblichen Klischees hielt, die Schachtel war jedenfalls klein genug.
Aber Bastian und Schmuck â nein, das konnte nicht sein. Während all der Jahre, die sie zusammen waren, hatte er ihr keinen gekauft.
Generell war Schenken nicht gerade seine Stärke, er befürchtete immer, ihr ja doch nur das Falsche auszusuchen. Lieber schenkte er ihr Gutscheine oder gemeinsame Ausflüge. Im Gegensatz zu Hanny, die gerne zu Hause blieb, liebte Bastian das Reisen. Und er hatte es tatsächlich geschafft, ihr beizubringen, dass es seinen ganz eigenen Reiz hatte, wegzufahren und dann wiederzukommen. Aber das beste Geschenk in ihrer gemeinsamen Zeit war Sid gewesen. Sie hatte ihn sich selbst ausgesucht.
Auf einmal packte Hanny wieder traurige Verzweiflung.
Wenn Sid doch noch da wäre. Mit ihm war alles irgendwie erträglicher gewesen. Manchmal ging Hanny durch den Kopf, ob sie Sid wohl mehr vermisste als Bastian, aber das hing sicher damit zusammen, dass sie wusste, dass sie Sid nie wiedersehen würde. Jedenfalls nicht in diesem Leben. Wogegen Bastian, so wie es aussah, schon morgen wiederkommen würde. Und übermorgen. Und überübermorgen und immer so weiter, bis zum vierundzwanzigsten Dezember.
Bis dahin waren es noch drei Wochen.
Sie hatten dieses Jahr so viel vorgehabt.
Seltsamerweise fiel ihr erst jetzt das schöne Wetter auf.
Von Hannys Cottage hatte man einen phantastischen Blick über die verschneite kornische Landschaft, durch die sich eine von niedrigen Hecken flankierte, schmale StraÃe schlängelte. Hinter den landwirtschaftlich genutzten, sich ins Tal erstreckenden Feldern erhoben sich immer neue Hügel, gefolgt von einem weiteren Streifen Land und schlieÃlich dem Meer. Manchmal, wenn es nachts vollkommen still war, konnte sie es hören, das sanfte Murmeln der Wellen. Jetzt gerade war der Blick so schön, dass es sich perfekt als Postkartenmotiv geeignet hätte. Oder vielleicht besser als Weihnachtskartenmotiv. Sogar ein Rotkehlchen saà auf dem gemauerten Torpfosten, neigte den Kopf zur Seite und sah sie aus schwarzen Knopfaugen forschend an. Mit seinen kleinen FüÃen hinterlieà es gabelähnliche Spuren im Schnee.
Früher hatte es in Cornwall nur selten Schnee gegeben.
Bis vor etwa drei Jahren hatte es, soweit Hanny sich erinnern konnte, nur immer etwa alle zwölf Jahre mal geschneit. Dann aber reichlich, und sie und Midge hatten sich seinerzeit wie die Kinder darüber gefreut. Mit Fäustlingen und Pudelmützen ausgerüstet, hatten sie sich vor dem Haus, in dem sie gemeinsam wohnten, eine Schneeballschlacht geliefert.
Und dann, vor drei Jahren, hatte es auf einmal
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