Kannst du mir verzeihen
keinen Versuch, ins Haus zu kommen.
Hanny hatte sich in der hintersten Ecke ihres gemeinsamen Schlafzimmers verzogen und saà zusammengekauert auf dem Boden, das Kinn auf die Knie gelegt.
Kreidebleich und stumm.
Es war ihr, als würde ihr Selbst, wie sie es kannte, von einer Windhose weggesogen. Weg, immer und immer weiter, bis ins All, bis die Welt immer kleiner wurde, bis es keine Gefühle mehr gab, keine Gedanken, keine Geräusche, nur Stille.
Und da blieb sie.
Und schwebte.
Völlig frei.
All das war jetzt sechsundzwanzig Tage her.
Sechsundzwanzig Tage. Sie hatte versucht, es nicht zu tun, aber dann hatte sie doch jeden einzelnen Tag gezählt. Hätte nur noch gefehlt, dass sie mit einem dicken roten Filzstift jeden Tag im Kalender durchgestrichen hätte.
Heute war der erste Dezember, und es war ein besonderer Tag: Heute vor sechs Jahren hatten sie sich kennengelernt.
Sechs Jahre hatten sie miteinander verbracht.
So viele Tage. So viele Stunden. So viele Augenblicke.
Im Handumdrehen ausgelöscht.
Durch einen kleinen Verrat, so kraftvoll wie eine riesige Flutwelle, die ein Fundament wegspült, das vorher als unverrückbar galt.
Nie hätte Hanny geglaubt, dass ihr so etwas passieren könnte. Oder ihm. Ausgerechnet ihm, dem anständigsten Mann der Welt, dem Geliebten und besten Freund. Dem Lügner.
Alles war anders.
Der Schnee. Er hatte alles, was vertraut und warm gewesen war, in eine harsche Winterlandschaft verwandelt.
Noch während sie am Fenster stand, hörte Hanny ein ungewohntes Geräusch.
Sie brauchte einen Moment, bis sie es einordnen konnte.
Eigentlich doch gar nichts Ungewöhnliches, wenn sie mal davon absah, dass sonst selten jemand an die Haustür klopfte. SchlieÃlich wohnten sie â nein, wohnt e sie, korrigierte Hanny sich selbst â, also, schlieÃlich wohnt e sie etwa einen Kilometer auÃerhalb des nächsten Dorfes an einer StraÃe, die nur von Einheimischen als Abkürzung benutzt wurde. Hier kam niemand zufällig vorbei, nicht einmal die Zeugen Jehovas. Die wenigen Besuche, die sie bekam, stattete ihr entweder Tante Midge ab â und die klopfte grundsätzlich nicht an â oder ihre beste Freundin Edith, und die kam immer durch die Küchentüre herein.
Ihr Herz stockte.
War er das vielleicht?
War das womöglich Bastian?
Es war seltsam. Sie wollte ihm so vieles sagen. Ihn so vieles fragen. Aber ...
Aber sie brachte es nicht über sich, mit ihm zu reden, geschweige denn, ihm die Tür zu öffnen. Nach diesem verhängnisvollen Abend hatte sie in ihrer Enttäuschung und Wut sogar sämtliche Türschlösser auswechseln lassen.
Bastian.
Der Gedanke an ihn machte sie traurig. Lieber stürzte sie sich in ihre Arbeit und drängte ihn vollkommen aus ihrem Bewusstsein. Vor Bastian hatte sie ein eigenes Leben gehabt. Also würde sie auch eines nach ihm haben. SchlieÃlich war sie, Hannelore Richmond, Kinderbuchillustratorin, und eine sehr gute und gefragte dazu.
Zu ihrem Glück befand sie sich gerade in der Schlussphase eines Auftrags, da konnte sie sich ganz ihren Bildern hingeben. Malen war ihre erste groÃe Liebe gewesen, noch vor Bastian. Ins Malen hatte sie sich stets geflüchtet, wenn die Welt um sie herum zu chaotisch wurde.
Wenn sie malte, war sie nicht mehr sie selbst und konnte verschwinden an einen Ort, an dem alles schön war.
Vor sechs Tagen hatte er es aufgegeben, sie anzurufen.
Seither hatte sie überhaupt nichts mehr von ihm gehört.
Zunächst war sie froh gewesen, nicht jedes Telefonklingeln fürchten zu müssen. Sein Schweigen war erst einmal eine groÃe Erleichterung, und sie war dankbar dafür.
Dankbar, dass sie ihm nicht aus dem Weg gehen, ihn nicht ignorieren, ihn nicht konfrontieren, ihn nicht wieder erleben musste.
Doch das Gefühl hielt nicht lange an.
Bereits am Morgen des dritten Tages überprüfte sie, ob das Telefon eingestöpselt und der Klingelton aktiviert war.
Alles in Ordnung.
Trotzdem sah sie noch mindestens sechsmal nach. Das Telefon funktionierte einwandfrei.
Vierter Tag. Keine Veränderung. Er rief nicht an. Rief er deshalb nicht an, weil er hoffte, sie würde den Kontakt zu ihm suchen, wenn er es nicht versuchte?
Das konnte er vergessen.
Sie würde es in vollen Zügen genieÃen, nichts mehr von ihm zu hören. Je eher er aus ihrem Leben verschwand, desto eher konnte sie sich ein
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