Kantaki 03 - Der Zeitkrieg
obwohl Diamant inzwischen eine gewisse Routine entwickelt hatte. Und selbst als alles in ihr seinen Platz fand: Das innere Gewicht, das sie seit einer Weile mit sich herumtrug, wurde schwerer. Vielleicht musste sie tatsächlich die Hilfe des Therapeuten Hominx in Anspruch nehmen.
Im Halbdunkel des Behandlungszimmers, in dem sich außer ihr niemand mehr aufhielt, neigte sie den Kopf zurück und schloss die Augen. »Du existierst nach wie vor, Lidia. Es hat dich gegeben, und es wird dich auch weiterhin geben.«
Doch auf dem Weg zu ihrem Quartier, vorbei an einem besorgten Hominx, begriff sie, dass sie mit jenen Worten versuchte, sich selbst etwas vorzumachen. Die Niedergeschlagenheit, die seit einiger Zeit ihr Empfinden immer mehr dominierte, wurzelte in dem sich zu Gewissheit verdichtenden Zweifel, dass die Erinnerungen an all jene Leben falsch waren, das Ergebnis von temporalen Manipulationen, zu denen sich jederzeit weitere Veränderungen hinzugesellen konnten. Sie befürchtete, dass die einundzwanzig anderen Leben in ihr nicht mehr waren als eine Möglichkeit, vielleicht nur eine Illusion. Und vielleicht ist es mit meinem eigenen Leben nicht anders, dachte Diamant und berührte damit den zentralen Punkt ihres Kummers. Sie fühlte sich wie verloren in einer Welt, die keinen Halt bot, in der alles jederzeit verschwinden konnte, in der nichts gewährleistete, dass die Dinge so blieben, wie sie waren. Manchmal gelang es ihr, solche depressiven Phasen durch Zorn zu überwinden, Zorn auf die Temporalen, die all dies bewirkt hatten, aber diesmal war sie zu müde, um zornig zu werden.
In ihrem Quartier ließ Diamant das Licht ausgeschaltet. Ein bei ihrem Eintreten aktiviertes pseudoreales Fenster zeigte das All, nicht den Ozean der Zeit, und das Glühen der Sterne genügte ihr für die Orientierung in den dunklen Zimmern. Geistesabwesend betätigte sie die Kontrollen des Datenservos, und leise Klaviermusik erklang aus den Lautsprechern, von ihrer Mutter Carmellina Diaz komponiert. Sie legte sich aufs Bett, ohne die Kleidung abzustreifen, dachte an die drei Gräber beim Haus am See, an die anderen Personen, die eine Rolle in ihrem Leben gespielt hatten, an die Betreuerin Rita, den blinden Floyd, den sie in der nichtlinearen Zeit auf Floyds Welt begraben hatte, an Esmeralda und einige Männer, mit denen sie, meist nur für kurze Zeit, glücklich gewesen war. Sie dachte an Mutter Krir, deren Tod sie beobachtet hatte, an ihre fünf Kinder, insbesondere Grar, dessen Schiff sie viele Jahre lang geflogen hatte. All das existierte nicht mehr, und was am schlimmsten war: Vielleicht hatte es nie existiert. Vielleicht waren die Erinnerungen an ihr eigenes Leben ebenfalls nur Schein und Illusion.
»Hör auf damit«, sagte sie laut. »Hör auf damit, an dir zu zweifeln. Und hör auf mit dem verdammten Selbstmitleid, Diamant. Ein Krieg findet statt, und es gibt Leute, die noch viel schlimmer dran sind als du. Reiß dich zusammen!«
Die Klaviermusik erklang auch dann noch, als Diamant eingeschlafen war und von zweiundzwanzig Leben träumte, eines davon ihr eigenes.
11
Blickwinkel
Indigo: Xandor, 20. Oktober 5521
»Wenn Sie wirklich Recht hätten …«, sagte Diamant langsam, nachdem Valdorian seinen ersten Schilderungen weitere, detaillierte hinzugefügt hatte, »wenn wirklich ein Zeitkrieg stattgefunden hat, den die so genannten Temporalen gewannen, wenn dies hier eine falsche, eine manipulierte Realität ist …« Sie blieb stehen und sah Valdorian an. »Die Kantaki müssten davon wissen. Ihre Zeitwächter auf Munghar müssten längst etwas gemerkt haben.«
Sie waren am Ufer eines subplanetaren Sees entlanggegangen, in der Mitte einer riesigen Tropfsteinhöhle mehr als einen Kilometer unter Xandors Hauptstadt Fernandez – sie erinnerte Diamant viel zu sehr an die Unterwasserhöhle auf Tintiran, in der Valdorian und sie sich zum ersten Mal geliebt hatten, in einem anderen Leben. Sie fragte sich plötzlich, ob das tatsächlich geschehen war? Oder handelte es sich um eine falsche Erinnerung, um das Ergebnis temporaler Manipulation? Sie schüttelte verwirrt den Kopf.
Und dann, mit der Wucht eines emotionalen Hammerschlags, kehrte ein schreckliches Erinnerungsbild zurück: das brennende Haus an diesem anderen, größeren See, der Tod ihrer Eltern …
Valdorians Worte streuten Salz in die offene Wunde. »Sie haben gesehen, was in und beim Haus Ihrer Eltern geschah. Es war keine Halluzination, das versichere ich
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