Karlas Umweg: Roman (German Edition)
Leben, das ich führte. Morgens brachte ich Bastian in den Kindergarten, arbeitete, holte ihn am Nachmittag wieder ab, ging mit ihm auf den Spielplatz, steckte ihn um acht ins Bett, legte mich auf das Sofa und schaltete den Fernseher an. Es war ein Status quo, den ich hinnahm und den ich manchmal auch genoss. Und doch fragte ich mich oft, wie lange das so weitergehen sollte. Denn es gab Augenblicke, da war mir mein Leben völlig fremd.
Ab und zu brachte ich Bastian zu meinen Eltern und fiel zurück in jene Gepflogenheiten, die mir vertraut waren: ausgehen, Freunde treffen, ziellos durch die Stadt gehen, die Zeit vertrödeln, als hätte ich einen unerschöpflichen Vorrat an Tagen vor mir.
Vormittags arbeitete ich zu Hause an verschiedenen Projekten. Zu der Zeit gab es genug davon, denn das Privatfernsehen steckte noch in den Kinderschuhen, und die Aufträge lagen auf der Straße.
Einmal sollte ich den Text zu einer Dokumentation über einen jungen erfolgreichen Pianisten schreiben. Die Zeit bis zum Sendetermin war knapp, deshalb bekam ich immer wieder Kopien von den fertigen Teilen des Films, damit ich vorarbeiten konnte. Meist brachte mir ein Kurier diese Kopien.
Doch eines Tages stand eine junge Frau vor meiner Tür. Sie war sehr schüchtern und erklärte mir, sie mache ein Praktikum in der zuständigen Redaktion. Sie wolle alle Arbeitsschritte kennenlernen, und da es für sie kein Umweg sei, bringe sie mir diesmal die Kopien. „Und es wäre nett, wenn Sie mir ein bisschen erklären könnten, was Sie tun.“
Ein guter Teil meiner Tätigkeit bestand darin, das Videoband hin und her zu spulen, zu tippen und immer wieder einfach aus dem Fenster zu schauen. Und das Letzte, was ich brauchte, war eine Praktikantin, die mir dabei zusah. Doch nun galt es, kooperativ zu sein, denn ich mochte diese Redaktion und hoffte auf weitere Aufträge von dort.
Also legte ich das Band ein und begann zu dozieren, erklärte die Text-Bild-Schere, den Unterschied zwischen kommentierendem und literarischem Text, sprach vom Rhythmus, den man finden müsse, damit die Worte die Bilder nicht stören, sondern ergänzen, und dergleichen mehr.
Sie unterbrach mich. „Ich heiße Martha. In der Redaktion duzen sich alle.“
„Ja, ja, klar – also, Martha, schau, hier spielt er, das ist was von Schönberg. Fantastisch, das muss man klingen lassen. Und hier kann der Text wieder einsetzen, aber nicht zu viel, nicht zu dicht, die Musik soll weiter präsent sein …“
„Ich kann Schönberg nicht ausstehen.“
„Wie? Ach so. Na egal …In meinem Job muss man auch mal überzeugend Dinge formulieren, obwohl man gar nicht überzeugt davon ist. Ich mag Schönberg übrigens schon gern, weil …“
„Das sieht man dir gar nicht an.“
„Äh, was?“
„Dass du lügst.“
„Moment! Was heißt hier ‚lügen‘? Das stimmt so nicht. Ich mache das aus Überzeugung. Hör mal, diese Stelle hier! Daran erkennt man sehr gut Schönbergs Kompositionsprinzip.“
„Spielst du gern mit Playmobilmännchen?“
Martha hatte blonde Haare und braune Augen. Erst jetzt, als sie mich mit einem leicht spöttischen Zug um die Mundwinkel anschaute, sah ich, wie hübsch sie war, wie ein Bild, das, obwohl zunächst ganz unauffällig, nach und nach zu wirken begann. Es war auch ihre dunkle, kraftvolle Stimme, die mich anzog, eine Stimme, die gar nicht zu ihr passte, denn Martha war klein und zierlich.
Mit ihrer Frage hatte sie mich völlig aus dem Konzept gebracht. Unsere Wohnung war nicht sehr groß, ich nutzte das Wohnzimmer auch als Arbeitszimmer. Und Bastian nutzte es als Spielzimmer. Deshalb stand sein Playmobil-Bauernhof in einer Ecke des Zimmers. Fünf Männchen lagen ungeordnet vor der Scheune. Vor dem Tor aber hatte ich heute Morgen aus einer Laune heraus die Magd und den Bauern in der 69-Stellung aufeinandergelegt. Marthas Blick ruhte auf dem Bauernhof. Ich wurde rot wie ein kleiner Junge, denn ich fühlte mich ertappt.
Martha wandte sich zu mir und lächelte:
„Darf ich eine von deinen Zigaretten haben?“
„Gern.“
Ich gab ihr Feuer. Einen Augeblick lang ließ sie ihre Hand auf meiner ruhen, so als wollte sie die Flamme behüten.
„Der Bauernhof, äh … den brauche ich für Dreharbeiten.“
Sie saß etwas gebeugt da, eine Hand im Schoß, die andere beiläufig an der Kante meines Schreibtisches. Ihre Stimme klang nun leise und weich. „Mein Sohn hat auch so einen Bauernhof.“
Wie es weitergeht, erfahren Sie in:
Stefan Scholz
Steine
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