Karlas Umweg: Roman (German Edition)
Klavierstunden, montags katholischer Kirchenchor, mittwochs evangelischer Kirchenchor, samstags Jugendchor und sonntags Bad Orkser Singkreis. Tja. Das war bisher mein Leben. Seit Sommer jobbe ich hier an der Musikschule. So weit, so langweilig. Ich frage mich wirklich, wie ich dieses dicke, goldene Buch füllen soll. Regina dagegen hat viel mehr über sich zu berichten. Das tut sie ja auch. Pausenlos. Unfreiwillige Zuhörer findet sie immer. Reginas Lebensinhalt: Gernot.
Gernot passt total gut. Zu Regina, und überhaupt. In dieses freudlose Musikschul- und Kleinstadt-Dasein. Regina hat nämlich gern Not mit ihrem Gernot. Sie leidet gerne, das füllt ihr jämmerliches Leben mit Inhalt. Sie ist seit Jahren Klavierlehrerin an diesem kleinstädtischen Institut – und da braucht man schon einen Gernot als Dreingabe.
Ausgerechnet Regina hat mir also die goldene Kladde geschenkt, auf der in geschwungenen Lettern steht: Mein Tagebuch. Wenigstens kann ich meinen Ärger über sie da hinein schreiben. Sie ist der spießigste und engstirnigste Mensch, der mir je begegnet ist, und leider begegnet sie mir täglich. Stündlich. In schlimmen Phasen sogar alle zehn Minuten. Auf dem Flur der Musikschule. Oder sie stürmt einfach nach kurzem herrischem Anklopfen in meinen Unterrichtsraum. Egal, wer da erwartungsvoll an meinem Klavier sitzt: ihr Auftritt ist immer wichtiger. Sie platzt vor Mitteilungsdrang.
Und ich weiß doch schon alles! Obwohl ich Gernot noch nie gesehen habe, kenne ich den Mann besser als er sich selbst. Ich weiß sogar von dem nässenden Ekzem hinter seinen Ohren. Na danke, Leute.
Heute hat mich Regina gefragt, ob ich das Tagebuch schon fleißig benutzt habe, und mich dabei am Ärmel festgehalten. Ich hasse es, wenn sie mich so am Weitergehen hindert, aber so ist sie nun mal. Besitzergreifend und rechthaberisch. Als ich ihr sagte, ich hätte schon drei Seiten geschrieben, hat sie höhnisch gelacht: »Drei Seiten?! Ich habe schon drei dicke Bände in sieben Jahren voll geschrieben! Das musst du mir erst mal nachmachen!« Ich habe ärgerlich auf den Boden geguckt, der vom Bohnerwachs glänzte. Typisch Regina! In allem ist sie ungleich besser, ausführlicher, erfolgreicher. In allem!!
»Was hast du denn da so alles reingeschrieben?«, habe ich höflichkeitshalber gefragt, und sie hat spöttisch gelächelt und gesagt: »Das möchtest du wohl gerne wissen, was?« Aber dann hat sie mir doch bereitwillig Auskunft erteilt. Ihre drei Kladden sind voll gekritzelt mit ihren Problemen mit Gernot. Währenddessen spielte drinnen ihre Schülerin eine der Moll-Etüden von Czerni. Pausenlos und sehr abgehackt. Es war eine großartige Geräuschkulisse. Zum Glück kam dann die Mutter von dem kleinen Neuen mit den roten Haaren und schleifte ihr unwilliges Kind hinter sich her – ich hatte den berechtigten Eindruck, es will überhaupt nicht Klavier spielen lernen –, sodass ich Regina mit ihren Gernot-Problemen auf dem Flur stehen lassen konnte. Es ist doch erstaunlich, wie ausgesprochen wenig ich Regina leiden kann.
Wochenende. Draußen regnet es, wie es sich für einen Novembersonntag gehört. Ich habe mich etwas an der Kunst der Fuge vergangen und anschließend das Klo geputzt, mit meinem neuen praktischen Hausfrauenset, das mir die Mütter von der vierten Klavierschulklasse zum Geburtstag geschenkt haben. Eigentlich ist damit mein Schaffensdrang erschöpft. Ich gerate ins Nachdenken. Früher war Nachdenken nicht so zeitaufwendig, als ich noch nicht die goldene Kladde ins Vertrauen ziehen musste. Da konnte ich Tonleitern dreschen, Etüden klimpern oder sogar Choräle singen, und immer habe ich dabei nachgedacht, mehr oder weniger. Aber jetzt? Die Kladde fesselt mich, fordert meine ungeteilte Aufmerksamkeit, hält mich am Ärmel fest. Sie ist wie Regina. Ich kann sie nicht leiden. So, jetzt reicht es.
Ich schmeiße das Ding in den Ofen.
Nein, das wäre doch Papierverschwendung. Papa in seiner nicht mehr zu steigernden Sparsamkeit würde die Seiten des Buches wenigstens noch zum Ausstopfen seiner nassen Wanderschuhe verwenden. Papa ist so genügsam, dass er sogar die Tropfen, die beim Schälen einer Apfelsine entstehen, noch mit einem Blatt Papier auffängt. Gestern hat er mir gestanden, dass er nicht mal zur Kategorie der Geschenkpapier-exakt-Zusammenfalter gehört, sondern viel radikaler ist: Er lehnt Geschenkpapier generell ab! Es sei absolute Papierverschwendung, ein Geschenk erst ein- und dann wieder auszuwickeln,
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