Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
unterbringen. Er verstaute
sorgsam seine Fachkamera und seine Objektive (er verfügte über ein Rodenstock
Apo-Sironar 105 mm, f/5,6 und ein Fujinon 180 mm, f/5,6) und betrachtete dann
seine restliche Habe. Er besaß einen Laptop, einen iPod, ein paar Kleidungsstücke
und einige Bücher: also im Grunde nicht sehr viel, all das würde leicht in zwei
Koffer passen. Das Wetter in Paris war schön. Er war in diesem Zimmer nicht
unglücklich, aber auch nicht sonderlich glücklich gewesen. Sein Mietvertrag
lief in einer Woche aus. Er überlegte, nach draußen zu gehen, um noch einen
letzten Spaziergang durch sein Viertel zu machen, zum Beispiel an den Ufern des
Arsenal-Beckens – dann rief er seinen Vater an, um ihn zu bitten, ihm beim
Umzug zu helfen.
Ihr Zusammenleben in dem Haus in Le
Raincy – zum ersten Mal seit sehr langer Zeit, tatsächlich zum ersten Mal seit
Jeds Kindheit, von ein paar Schulferien abgesehen – entpuppte sich sofort als
unkompliziert und zugleich ziemlich unausgefüllt. Sein Vater arbeitete damals
noch sehr viel, er war weit davon entfernt, die Leitung seines Unternehmens
abzugeben, und kehrte abends selten vor einundzwanzig, wenn nicht gar
zweiundzwanzig Uhr heim. Dann ließ er sich vor dem Fernseher in einen Sessel
sinken, während Jed eines der Fertiggerichte aufwärmte, die er ein paar Wochen
zuvor im riesigen Carrefour-Supermarkt in Aulnay-sous-Bois gekauft und in den
Kofferraum des Mercedes gepackt hatte; er bemühte sich, die Gerichte zu
variieren, um ein gewisses Ernährungsgleichgewicht zu erzielen, er hatte auch
Käse und Obst eingekauft. Sein Vater schenkte dem Essen ohnehin kaum
Aufmerksamkeit, er zappte schlaff durch die Kanäle und sah sich schließlich
meistens auf dem Kabelsender LCI eine der ermüdenden Debatten über Wirtschaftsprobleme
an. Nach dem Abendessen ging er beinahe augenblicklich ins Bett, morgens war er
fort, ehe Jed aufgestanden war. Das Wetter war sonnig und fast jeden Tag
gleichmäßig warm. Jed ging unter den Bäumen des Parks spazieren, setzte sich
mit einem Philosophiebuch in der Hand, das er im Allgemeinen nicht aufschlug,
unter eine hohe Linde. Kindheitserinnerungen kamen ihm in den Sinn, aber nicht
sehr viele; dann ging er wieder ins Haus, um sich die Tour de France im
Fernsehen anzusehen. Er hatte eine Vorliebe für die endlosen, langweiligen
Aufnahmen aus dem Hubschrauber, die das Peleton zeigen, das sich scheinbar
träge durch die französische Provinzlandschaft bewegt.
Jeds Mutter Anne entstammte einer
kleinbürgerlichen jüdischen Familie – ihr Vater hatte ein kleines
Juweliergeschäft in einem abgelegenen Pariser Stadtviertel besessen. Mit
fünfundzwanzig hatte sie Jean-Pierre Martin geheiratet, der damals ein junger
Architekt gewesen war. Es war eine Liebesheirat gewesen, und einige Jahre
später hatten sie einen Sohn gezeugt, der in Gedenken an ihren geliebten Onkel
den Vornamen Jed bekam. Ein paar Tage vor dem siebten Geburtstag ihres Sohnes nahm
sie sich das Leben – Jed erfuhr das erst viele Jahre später durch eine
Indiskretion seiner Großmutter väterlicherseits. Seine Mutter war damals
vierzig Jahre alt gewesen, ihr Mann siebenundvierzig.
Jed hatte fast keine Erinnerungen mehr
an seine Mutter, und ihr Selbstmord war kein Thema, das er im Verlauf seines Aufenthalts
in der Villa in Le Raincy anschneiden konnte; er wusste, dass er zu warten
hatte, bis sein Vater von sich aus darüber sprach – und wusste zugleich, dass
es vermutlich nie dazu kommen und sein Vater dieses Thema, so wie alle anderen
Themen, bis zum Schluss meiden würde.
Ein Punkt musste jedoch geklärt
werden, und das besorgte schließlich sein Vater an einem Sonntagnachmittag,
nachdem sie sich gemeinsam eine kurze Etappe – das Zeitfahren von Bordeaux –
angesehen hatten, die zu keiner wesentlichen Änderung in der allgemeinen
Platzierung geführt hatte. Sie saßen im Bibliothekszimmer – dem mit Abstand
schönsten Raum der Villa, der mit Eichenparkett und englischen Ledermöbeln
ausgestattet war und in dem aufgrund seiner bunten Glasfenster immer ein
leichtes Halbdunkel herrschte; in den Regalen an allen vier Wänden standen
beinahe sechstausend Bücher, hauptsächlich im neunzehnten Jahrhundert
veröffentlichte wissenschaftliche Abhandlungen. Jean-Pierre Martin hatte das
Haus vierzig Jahre zuvor zu einem günstigen Preis von dem damaligen Besitzer
erworben, der dringend Geld brauchte. Seinerzeit war diese Gegend noch völlig
sicher gewesen, es war ein
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