Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
Generation
ungewöhnlich umfangreiches Wissen über den Schatz der Weltliteratur. Er hatte
Platon, Aischylos und Sophokles gelesen; er hatte Racine, Molière und Victor
Hugo gelesen; er kannte Balzac, Dickens, Flaubert, die deutschen Romantiker und
die russischen Romanschriftsteller. Und er war, noch erstaunlicher, mit den
grundlegenden Dogmen des katholischen Glaubens vertraut, welche die westliche
Kultur zutiefst geprägt hatten – während seine Zeitgenossen im Allgemeinen
weniger über das Leben Jesu wussten als über das von Spiderman.
Dieser Eindruck von etwas
altmodischem Ernst, den er vermittelte, sollte die Hochschullehrer, die seine
Bewerbungsunterlagen für die École des Beaux-Arts zu begutachten hatten,
positiv beeinflussen; offenbar hatten sie es mit einem originellen,
kultivierten, ernsthaften und vermutlich arbeitsamen Kandidaten zu tun. Das
Dossier, das er vorlegte, trug den Titel »Dreihundert Fotos von Objekten aus
dem Eisenwarenhandel« und zeugte von erstaunlicher ästhetischer Reife. Jed
hatte es vermieden, den Glanz der Metallgegenstände und den bedrohlichen
Charakter ihrer Formen hervorzuheben, stattdessen hatte er eine neutrale, nicht
sehr kontrastreiche Beleuchtung gewählt und die Artikel des Eisenwarenhandels
auf einem Hintergrund von mittelgrauem Samt fotografiert. Schrauben, Muttern
und Rollgabelschlüssel wirkten so geradezu wie Juwelen mit diskretem Schimmer.
Dagegen hatte er große Mühe gehabt
(und diese Schwierigkeit sollte ihn sein ganzes Leben begleiten), eine schriftliche
Präsentation seiner Fotos zu verfassen. Nach diversen Versuchen, die Wahl
seines Themas zu rechtfertigen, nahm er schließlich zu einer Darstellung reiner
Fakten Zuflucht und begnügte sich damit zu unterstreichen, dass die
einfachsten, aus Stahl hergestellten Gegenstände aus dem Eisenwarenhandel bereits
eine Fertigungspräzision von 1 /10 Millimeter besaßen. Die für einen
hochwertigen Fotoapparat oder einen Formel-1-Motor erforderlichen Bauteile
fielen schon fast in den Bereich der Präzisionsmechanik; sie wurden im
Allgemeinen aus Aluminium oder einer Leichtmetalllegierung gefertigt, und ihr
Präzisionsgrad wurde in 1 /100 Millimetern bemessen. Die
Hochpräzisionsmechanik schließlich, die zum Beispiel in der Uhrenindustrie oder
in der Zahnchirurgie zur Anwendung kam, griff auf Titan zurück, die
Toleranzgrenze der Werkstücke wurde in diesem Fall in Mikrometer-Einheiten
gemessen. Zusammenfassend ließ sich, wie Jed die Argumentation etwas abrupt und
verkürzend auf den Punkt brachte, bis zu einem gewissen Grad eine Parallele
zwischen der Geschichte der Menschheit und der Geschichte der
Metallverarbeitung herstellen – das erst seit kurzem angebrochene Zeitalter der
Polymere und Plastikerzeugnisse war ihm zufolge noch zu jung, um eine wirkliche
geistige Veränderung herbeizuführen.
Kunsthistoriker, die gewandter im
Umgang mit der Sprache waren, merkten später an, dass schon dieses erste von
Jed realisierte Projekt wie alle seine späteren Projekte – unabhängig von den
Medien, die er verwendet hatte – in gewisser Weise eine Würdigung der menschlichen Arbeit darstellte.
Und so begann Jed seine
Künstlerlaufbahn mit dem ausschließlichen Ziel – dessen illusorischer Charakter
ihm nur selten bewusst wurde –, eine objektive Beschreibung der Welt zu
liefern. Trotz seiner klassischen Bildung war er – im Gegensatz zu dem, was
später oft über ihn geschrieben wurde – keineswegs von religiöser Ehrfurcht vor
den alten Meistern beseelt; schon zu jener Zeit zog er Mondrian und Klee bei
weitem Rembrandt und Velasquez vor.
In den ersten Monaten nach seinem
Umzug ins 13. Arrondissement verbrachte er die meiste Zeit mit Nichtstun, außer
wenn er sich den durchaus zahlreich eintreffenden Aufträgen für
Objektfotografie widmete. Doch eines Tages, als er eine Festplatte von Western
Digital auspackte, die ihm gerade von einem Kurierdienst gebracht worden war
und von der er für den folgenden Tag Fotos aus verschiedenen Blickwinkeln
abliefern sollte, wurde ihm klar, dass er mit der Objektfotografie Schluss
machen würde – zumindest auf dem Gebiet der Kunst. Es war, als habe die
Tatsache, dass er diese Objekte inzwischen zu rein beruflichen, kommerziellen
Zwecken fotografierte, für ihn jede Möglichkeit zunichte gemacht, sie im Rahmen
eines schöpferischen Projekts zu verwenden.
Diese Gewissheit, die sich ihm ebenso
plötzlich wie unerwartet aufdrängte, löste bei ihm eine milde Depression
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