Der Spieler (German Edition)
Die Tasche voller Dharma
Wang Jun stand auf einer der regenglatten Straßen von Alt-Chengdu und starrte durch den Nieselregen zu Huojianzhu empor.
Sogar die Wolkenkratzer von Chengdu wirkten klein neben dem ins abendliche Dunkel aufragenden massiven Stadtkern. Arbeiter baumelten an dem turmhohen Gerippe, schwangen sich an langen Abseilgurten von einem Bauabschnitt zum nächsten. Andere kletterten gänzlich ungesichert über das bienenwabenartige Gerüst. Die Finger tief darin vergraben, erklommen sie mit gefährlich nachlässiger Leichtigkeit die Streben. Bald schon würde das stetig wachsende Herzstück die nassen Ziegeldächer der alten Stadt überwuchert haben. Dann hätte Huojianzhu, das lebendige Bauwerk, sich Chengdu gänzlich einverleibt.
Sein Skelett wuchs aus eigener Kraft, von mineralhaltigem Gitterwerk genährt und mit einer Zellstoffmembran überzogen. Es war weitläufig und fest in der fruchtbaren grünen Erde des Sichuan-Beckens verwurzelt, und der weitverzweigte Unterbau grub sich immer noch tiefer hinein. Das Erdreich, die Sonne und das stinkende Wasser des Bing Jiang lieferten Nährstoffe und Materialien – Huojianzhu verschlang dabei ebenso gierig Schadstoffe als auch das durch den rußigen Nebel fallende Sonnenlicht.
Im Innern wuchsen lange Rohrleitungen aus seinen Venen und Arterien, die sich des Abfalls, der Nahrung und auch des Datenhungers seiner zukünftigen Bewohner annehmen würden: eine einst nur in der schöpferischen Phantasie von Biotekten existierende vertikal aufragende Stadt, die jetzt reale Gestalt annahm. Das noch im Werden begriffene Geschöpf pulsierte vor Energie. Ausgewachsen würde es einen Kilometer hoch und fünfmal so breit sein – eine gewaltige biologische Stadt, die, auf lebenserhaltende Maßnahmen reduziert, schlafend daliegen würde, während die Menschen durch die ausgehöhlten Arterien laufen, die Venen erklimmen und ihr Erinnerungen in die Haut nageln würden, um sie sich anzueignen.
Während Wang Jun Huojianzhu betrachtete, sann sein Straßenjungenverstand auf Mittel und Wege, die ihn aus den nassen Straßen mit ihrem Hunger in diese Behaglichkeit hineinführen mochten. Einige bereits bewohnte Teilbereiche schimmerten hell. Menschen, die unerreichbar weit über ihm lebten, wandelten in den Korridoren des Organismus. Nur die Mächtigen und Wohlhabenden konnten so hoch oben wohnen. Diejenigen mit Guanxi . Verbindungen. Einfluss.
Durch Dunkelheit, Nässe und Nebel strebte sein Blick zum höchsten Punkt des Gebäudes empor, verlor sich aber lange, bevor er ihn gefunden hatte. Ob die Menschen dort oben wohl die Sterne sehen konnten, und nicht nur den Nieselregen, so wie er? Wenn man Huojianzhu eine Schnittwunde zufügte, so hatte er gehört, dann bluteten die Wände. Manche behaupteten sogar, es würde weinen. Erschaudernd wandte er den Blick wieder der Erde zu und bahnte sich mit seinen streichholzdünnen Beinchen und in gebückter Haltung einen Weg durch die Menschenmassen von Chengdu.
Um sich vor dem Sprühregen zu schützen, trugen die Pendler schwarze Schirme oder blaugelbe Plastikponchos. Ihm hingegen klebte das pitschnasse Haar am Schädel und zeichnete seine Konturen nach. Zitternd blickte er sich um, hielt angestrengt nach geeigneten Opfern Ausschau und war so in die Suche vertieft, dass er beinahe über den Tibeter gestolpert wäre.
Der Mann hatte eine durchsichtige Plastikfolie über seine Ware gebreitet und hockte auf dem feuchten Gehweg. Sein verschwitztes, rußverschmiertes Gesicht glänzte im grellen Schein der Halogenlaternen. Als er lächelte, entblößte er abgebrochene Zahnstümpfe. Dann zog er eine getrocknete Tigerpfote unter der Folie hervor und wedelte damit vor Wang Juns Nase herum.
»Willst du Tigerknochen?«, sagte er mit einem anzüglichen Grinsen. »Gut für Manneskraft.«
Wang Jun blieb wie angewurzelt vor der hin- und herbaumelnden amputierten Gliedmaße stehen. Nur noch der trockene Knochen, einige faserige Sehnen und etwas zottiges Fell des lange verstorbenen Besitzers waren erhalten. Neugierig betrachtete Wang Jun dieses Überbleibsel, dann streckte er die Hand aus, um die seltsam verbogenen gelben Krallen und die abgetrennten Sehnenstränge zu berühren.
Aber der Tibeter riss sie weg und lachte laut. An seinem Finger steckte ein angelaufener, mit Türkisen besetzter Silberring – eine Schlange mit dem eigenen Schwanz im Maul wand sich scheinbar endlos um seinen Finger.
»Anfassen kannst du dir nicht leisten.« Er
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