Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
Houellebecq von Irland aus ins Loiret gezogen; der wahre Bruch hatte bei
ihm schon vorher stattgefunden, als er Paris – das gesellschaftliche Zentrum
seiner Tätigkeit als Schriftsteller und seines Freundeskreises – verlassen
hatte, um nach Irland zu gehen, zumindest durfte man das vermuten. Der Bruch,
den Jed jetzt vollzog, indem er das gesellschaftliche Zentrum seiner eigenen
künstlerischen Tätigkeit verließ, war ähnlich geartet. Ehrlich gesagt hatte er
diesen Bruch in der Praxis schon mehr oder weniger vollzogen. In den ersten
Monaten nachdem er zu internationaler Berühmtheit gelangt war hatte er
bereitwillig an Biennalen teilgenommen, war auf Vernissagen erschienen und
hatte zahlreiche Interviews gegeben – und sogar einmal einen Vortrag gehalten, an
den er sich übrigens nicht im Geringsten erinnerte. Dann hatte er all das
eingeschränkt, auf Einladungen und E-Mails nicht mehr reagiert, und in knapp
zwei Jahren war er in die bedrückende, aber in seinen Augen unerlässliche,
fruchtbare Einsamkeit verfallen, die ein wenig dem »an unzähligen Möglichkeiten
reichen« Nichts der buddhistischen Lehre ähnelte. Allerdings brachte das Nichts
bisher nichts anderes als ein Nichts hervor, und das war der eigentliche Grund,
weshalb er den Wohnsitz wechselte, in der Hoffnung, den seltsamen Impuls
wiederzufinden, der ihm früher den Antrieb verliehen hatte, den unzähligen
natürlichen oder künstlichen schon in der Welt vorhandenen Objekten neue
Objekte, die als künstlerisch bezeichnet wurden, hinzuzufügen. Er tat es nicht, um
wie Houellebecq zu versuchen, einen hypothetischen Kindheitszustand
wiederzufinden. Im Übrigen hatte er seine Kindheit gar nicht in der Creuse
verbracht, sondern nur manchmal die Sommerferien, an die ihm kaum noch eine
Erinnerung blieb, bis auf das Gefühl unbestimmten, jähen Glücks.
Ehe er Paris verließ, musste er
noch eine letzte, unangenehme Aufgabe erledigen, die er so lange wie möglich
hinausgeschoben hatte: Schon vor ein paar Monaten hatte er einen Kaufvertrag
für das Haus in Le Raincy mit Alain Sémoun unterschrieben, einem Typen, der
seine Firma dorthin verlegen wollte. Er hatte es dank einer Website für den
Download von Mailbox-Ansagen und Displaybildern für Handys zu Reichtum
gebracht. Das schien auf den ersten Blick eine ziemlich banale, simple
Tätigkeit zu sein, aber er war innerhalb weniger Jahre zum Marktführer auf diesem
Gebiet geworden. Er hatte Exklusivverträge mit zahlreichen Persönlichkeiten
abgeschlossen, und man konnte beim Besuch seiner Website gegen ein geringes
Entgelt seinem Handy mit dem Foto und der Stimme von Paris Hilton, Deborah Channel,
Dimitri Medwedew, Puff Daddy und vielen anderen eine persönliche Note
verleihen. Er wollte das Haus zu seinem Firmensitz machen – er fand die
Bibliothek »super« – und moderne Werkstätten in dem Park errichten lassen. Ihm
zufolge verfügte Le Raincy über eine »Wahnsinnsenergie«, die er sich zu kanalisieren
erbot. Nun ja, so konnte man das wohl auch sehen. Jed fand, dass er mit seinem
Interesse für schwierige Vororte ein bisschen zu viel Wind machte, aber er war ein Typ,
der selbst beim Kauf eines Sechserpacks Volvic noch Wind gemacht hätte. Auf
jeden Fall hatte er ein schnelles Mundwerk, und es war ihm gelungen, das
Maximum aller verfügbaren regionalen oder nationalen Subventionen einzuheimsen;
er hätte Jed beim Kaufpreis sogar fast übers Ohr gehauen, doch der hatte sich
gerade noch rechtzeitig wieder gefasst, und schließlich hatte ihm der Typ einen
vernünftigen Preis angeboten. Jed brauchte dieses Geld natürlich nicht, aber er
hätte es als dem Gedenken seines Vaters unwürdig erachtet, dieses Haus zu einem
Schleuderpreis zu verkaufen: das Haus, in dem sein Vater versucht hatte zu
leben, das Haus, in dem er zumindest ein paar Jahre lang versucht hatte, ein Familienleben aufzubauen.
Als Jed in die Ausfahrt Richtung
Le Raincy einbog, blies ein heftiger Ostwind. Er war seit zehn Jahren nicht
mehr dort gewesen. Das Tor quietschte ein wenig, ließ sich aber mühelos öffnen.
Die Zweige der Pappeln und der Espen schlugen vor dem dunkelgrauen Himmel hin
und her. Zwischen dem hohen Gras und dem Dickicht aus Brennnesseln und
Brombeerranken war noch die Spur eines Weges zu erkennen. Er dachte mit leichtem
Schrecken daran zurück, dass er hier seine ersten Jahre und sogar seine ersten
Monate verbracht hatte; es war, als schlössen sich die Hüllen der Zeit mit
einem dumpfen Geräusch über ihm. Er war
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