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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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noch jung, sagte er sich, er hatte erst
die erste Hälfte seines Verfalls erlebt.
    Die geschlossenen weißen Klappläden
wiesen keine Einbruchsspuren auf, und das Schloss der diebstahlsicheren Haustür
gab ohne Schwierigkeiten nach; das war erstaunlich. Vermutlich hatte sich in
den benachbarten Großsiedlungen herumgesprochen, dass es in diesem Haus nichts
zu stehlen gab und es nicht einmal einen Einbruchsversuch lohnte. Das stimmte,
es gab dort nichts, was sich wieder verkaufen ließe. Keine modernen
elektronischen Geräte, nur massive Möbel ohne besonderen Stil. Den nicht gerade
umfangreichen Schmuck seiner Mutter hatte sein Vater mitgenommen – in das
Seniorenheim in Boulogne und später in das Heim in Le Vésinet. Die Schatulle
war Jed kurz nach dessen Tod übergeben worden. Er hatte sie sofort oben auf
einen Schrank gestellt, obwohl er wusste, dass er sie besser dem Schließfach
einer Bank anvertraut hätte, um nicht früher oder später wieder darauf zu
stoßen, was ihn unweigerlich auf traurige Gedanken gebracht hätte, denn das
Leben seines Vaters war schon nicht sonderlich fröhlich gewesen, aber das
seiner Mutter erst recht nicht.
    Er erkannte die Anordnung der Möbel
und die Lage der Zimmer sofort wieder. Diese funktionale menschliche
Wohneinheit hätte ohne Schwierigkeiten zehn Personen Raum geboten, hatte aber
in ihrer Glanzzeit nur drei Personen beherbergt – dann zwei, dann eine und
schließlich niemanden mehr. Er stellte sich flüchtig die Frage nach der
Heizung. Nie hatte er in seiner Kindheit oder seiner Jugend etwas von
Heizungsproblemen gehört, und als er als junger Mann vorübergehend bei seinem
Vater gewohnt hatte, war auch da nie die Rede davon gewesen. Vielleicht hatte
sich sein Vater ja einen außergewöhnlichen Heizkessel angeschafft, einen
Heizkessel mit »ehernen Füßen und Gliedern fest wie die Pfeiler des Tempels in
Jerusalem«, wie die Heilige Schrift die weise Frau kennzeichnet.
    Auf einem dieser tiefen Ledersofas
hatte er, durch die Kathedralglasfenster vor der Hitze des Sommernachmittags geschützt, Spirou & Fantasio oder die Gedichte von Alfred de Musset gelesen. Mit einem Mal begriff er,
dass er sich wohl besser beeilen sollte, und ging in das Arbeitszimmer seines
Vaters.
    Er fand die Zeichenmappen ohne
Schwierigkeit im ersten Schrank, den er öffnete. Es waren etwa dreißig Mappen
von je 50 x 80 cm, beklebt mit jenem Papier mit tristen schwarzen und grünen Motiven,
das im vorigen Jahrhundert systematisch alle Zeichenmappen gekennzeichnet
hatte. Sie waren von zerschlissenen schwarzen Bändern zusammengehalten, die zu
reißen drohten, und zum Bersten gefüllt mit Hunderten von Blättern im Format DIN   A 2 – bestimmt die Arbeit
zahlreicher Jahre. Er klemmte sich vier Mappen unter die Arme, ging nach
draußen und öffnete den Kofferraum seines Audi.
    Als er zum dritten Mal zu seinem Wagen
zurückkehrte, bemerkte er einen großen Schwarzen, der ihn von der anderen
Straßenseite aus beobachtete und dabei mit jemandem telefoniert. Ein richtiger
Kleiderschrank von etwa einem Meter neunzig Größe mit kahlrasiertem Schädel und
einem Gewicht von mindestens zwei Zentnern, aber seine Züge waren noch jugendlich,
er war vermutlich höchstens sechzehn. Jed vermutete, dass Alain Sémoun seine
Kapitalanlage schützen ließ, und überlegte sich, ob er dem Jungen eine
Erklärung geben solle, verzichtete dann aber darauf und hoffte, dass die
Beschreibung, die Sémoun von Jed lieferte, seinem Gesprächspartner erlauben
würde, ihn wiederzuerkennen. Das war offensichtlich der Fall, denn der Schwarze
unternahm nichts, um ihn zu unterbrechen, sondern begnügte sich damit, ihn zu
überwachen, bis er mit dem Beladen des Autos fertig war.
    Anschließend irrte er noch ein paar
Minuten durch den ersten Stock, ohne irgendetwas zu empfinden und ohne sich an
irgendetwas zu erinnern, dabei wusste er, dass er dieses Haus, das sowieso
gründlich renoviert werden würde, nie wieder betreten würde; vermutlich würde
dieser Blödmann die Zwischenwände einreißen und alles weiß streichen lassen,
aber auch das änderte nichts, sein Gehirn war einfach nicht aufnahmebereit, er
lief, von unbestimmter Trauer wie benebelt, mechanisch durch die Räume. Beim
Weggehen verschloss er sorgfältig das Tor. Der Schwarze war nicht mehr da. Mit
einem Schlag legte sich der Wind, die Zweige der Pappeln bewegten sich nicht
mehr, einen Augenblick lang war alles völlig still. Er wendete, bog in die Rue
de l’Égalité

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