Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
Keiner der Mieter
würde es wagen, die Polizei zu rufen, um sie loszuwerden – nicht am
Weihnachtstag. Meistens kümmerte sich die Mieterin aus dem ersten Stock darum –
eine Frau in ihren Sechzigern, die ihr Haar mit Henna färbte,
Patchwork-Pullover in grellen Farben trug und Jeds Einschätzung nach eine
Psychoanalytikerin im Ruhestand war. Aber er hatte sie in den letzten Tagen
nicht gesehen, sie war vermutlich in Urlaub gefahren – falls sie nicht
plötzlich gestorben war. Die Penner würden mehrere Tage lang dort bleiben, der
Gestank ihrer Fäkalien würde den Innenhof erfüllen, sodass man unmöglich die
Fenster öffnen konnte. Den Mietern gegenüber zeigten sie sich freundlich, sogar
unterwürfig, aber die Schlägereien, die sie untereinander anzettelten, waren äußerst
brutal und endeten fast immer auf die gleiche Weise: Laute Schreie, wie von
einem Todeskampf, drangen in die Nacht, irgendjemand rief den Notarztwagen, und
dann fand man einen Typen, der mit halb abgerissenem Ohr in einer Blutlache
lag.
Jed ging auf den mittlerweile
verstummten Heizkessel zu und hob behutsam die Klappe an, hinter der sich die
Bedienungseinheit befand; das Gerät gab augenblicklich ein kurzes Brummen von
sich, als fühle es sich von diesem Eingriff bedroht. Eine gelbe Kontrollleuchte
blinkte in kurzen Abständen auf, was Jed aber nicht zu deuten wusste.
Vorsichtig drehte er den Wärmeregler Millimeter für Millimeter nach links.
Falls die Sache schiefgehen sollte, hatte er noch die Telefonnummer des
Kroaten; aber übte der seinen Beruf überhaupt noch aus? Er habe nicht die
Absicht, »als Klempner zu versauern«, hatte er Jed ohne Umschweife gestanden.
Sobald er »ein hübsches Sümmchen« zusammengetragen habe, wolle er in seine
Heimat Kroatien zurückkehren, und zwar genauer gesagt auf die Insel Hvar, um
dort eine Firma zu gründen, die Jet-Boote vermietete. Nebenbei bemerkt war
eines der letzten Projekte, an denen Jeds Vater vor seinem Ruhestand gearbeitet
hatte, eine Ausschreibung für den Bau eines luxuriösen Yachthafens in Stari
Grad auf der Insel Hvar gewesen, die tatsächlich im Begriff war, ein Reiseziel
von Rang zu werden – im vergangenen Jahr hatte man dort Sean Penn und Angelina
Jolie begegnen können –, und Jed empfand eine gewisse zutiefst menschliche
Enttäuschung bei dem Gedanken daran, dass dieser Mann die Klempnerei an den
Nagel hängte, ein durchaus edles Handwerk, um stinkreichen kleinen Scheißern,
die in Paris in der Rue de la Faisanderie wohnten, beknackte, lärmende
Motorfahrzeuge zu vermieten.
»Worum handelt es sich hier
eigentlich?«, ist die Frage, die die Internetseite der Insel Hvar stellt, ehe
sie mit folgenden Worten darauf antwortet: »Hier findet man breite Lavendelfelder,
uralte Olivenbäume und Weingärten, eine einzigartige Harmonie, deswegen wird
ein Gast, der sich der Natur anzunähern versucht, viel lieber einen kleinen
Hvarer Weinkeller als ein luxuriöses Hotel aufsuchen. Er wird authentische
einheimische Weinsorten anstatt des berühmten Sekts kosten, wird ein altes
Insellied anstimmen und seine alltägliche Routine vergessen«, das war es
vermutlich, was Sean Penn verlockt hatte; Jed stellte sich die ruhige
Nachsaison vor, einen noch milden Oktober, in dem der ehemalige Klempner in
aller Ruhe vor einem Risotto aus Meeresfrüchten saß, und diese Wahl war
natürlich verständlich, ja sogar durchaus zu entschuldigen.
Fast unwillkürlich näherte er sich dem
Gemälde Damien Hirst und Jeff Koons teilen den
Kunstmarkt unter sich auf , das auf der
Staffelei mitten im Atelier ruhte, und wieder überkam ihn ein Gefühl der
Unzufriedenheit, das diesmal noch bitterer war. Ihm wurde bewusst, dass er
Hunger hatte, was nicht normal war, denn er hatte ein vollständiges
Weihnachtsmahl mit seinem Vater eingenommen, inklusive Vorspeise, Käse und
Nachtisch, nichts hatte gefehlt, aber er hatte Hunger und ihm war zu warm, er
konnte kaum noch atmen. Er kehrte in die Küche zurück, öffnete eine Dose
Cannelloni in Soße, verschlang die Nudeln eine nach der anderen und betrachtete
dabei mit mürrischer Miene sein missratenes Bild. Koons war ganz eindeutig
nicht locker genug geraten, nicht ätherisch genug – vielleicht hätte er ihn mit
Flügeln versehen müssen, wie der Gott Merkur dargestellt wird, dachte Jed
stumpf; so wie er hier abgebildet war, in seinem Nadelstreifenanzug und mit
seinem Handelsvertreterlächeln, ließ er ein wenig an Silvio Berlusconi denken.
In der von ArtPrice
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