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Kassandra

Kassandra

Titel: Kassandra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Nicht von Aineias, nein. Aineias lebt. Aber muß ein Mann, der lebt, wenn alle Männer sterben, ein Feigling sein? War es mehr als Politik, daß er, anstatt die Letzten in den Tod zu führen, sich mit ihnen auf den Berg Ida, in heimatliches Gelände, zurückzog? Ein paar müssen doch übrigbleiben – Myrinebestritt es –: warum nicht zuallererst Aineias und seine Leute.
    Warum nicht ich, mit ihm? Die Frage stellte sich nicht. Er, der sie mir stellen wollte, hat sie zuletzt zurückgenommen. Wie ich, leider, unterdrücken mußte, was ich ihm jetzt erst hätte sagen können. Wofür ich, um es wenigstens zu denken, am Leben blieb. Am Leben bleibe, die wenigen Stunden. Nicht nach dem Dolch verlange, den, wie ich weiß, Marpessa bei sich führt. Den sie mir vorhin, als wir die Frau, die Königin gesehen hatten, nur mit den Augen angeboten hat. Den ich, nur mit den Augen, abgelehnt. Wer kennt mich besser als Marpessa? Niemand mehr. Die Sonne hat den Mittag überschritten. Was ich begreifen werde, bis es Abend wird, das geht mit mir zugrund. Geht es zugrund? Lebt der Gedanke, einmal in der Welt, in einem andern fort? In unserm wackern Wagenlenker, dem wir lästig sind?
    Sie lacht, hör ich die Weiber sagen, die nicht wissen, daß ich ihre Sprache sprech. Schaudernd ziehn sie sich von mir zurück, überall das gleiche. Myrine, die mich lächeln sah, als ich von Aineias sprach, schrie: Unbelehrbar, das sei ich. Ich legte meine Hand in ihren Nakken, bis sie schwieg und wir beide, von der Mauer neben dem Skäischen Tor, die Sonne ins Meer tauchen sahn. So standen wir zum letzten Mal beisammen, wir wußten es.
    Ich mache die Schmerzprobe. Wie der Arzt, um zu prüfen, ob es abgestorben ist, ein Glied ansticht, so stech ich mein Gedächtnis an. Vielleicht daß der Schmerz stirbt, eh wir sterben. Das, wär es so, müßte man weitersagen, doch wem? Hier spricht keiner meine Sprache, der nicht mit mir stirbt. Ich mache die Schmerzprobeund denk an die Abschiede, jeder war anders. Am Ende erkannten wir uns daran, ob wir wußten, daß es an den Abschied ging. Manchmal hoben wir nur leicht die Hand. Manchmal umarmten wir uns. Aineias und ich, wir haben uns nicht mehr berührt. Unendlich lange, scheint mir, waren seine Augen über mir, deren Farbe ich nicht ergründen konnte. Manchmal sprachen wir noch, wie ich mit Myrine sprach, damit der Name endlich genannt wurde, den wir so lange beschwiegen hatten: Penthesilea.
    Wie ich sie, Myrine, vor drei, vier Jahren an der Seite der Penthesilea mit ihrer geharnischten Schar durch dieses Tor hatte einziehn sehn. Wie der Ansturm unvereinbarer Empfindungen – Erstaunen, Rührung, Bewunderung, Entsetzen, Verlegenheit und, ja, eben auch eine infame Erheiterung – sich in einem Lachkrampf Luft machte, der mich selbst peinigte und den mir Penthesilea, empfindlich wie sie war, niemals verzeihen konnte, Myrine bestätigte es mir. Sie war verletzt. Dies und nichts andres sei die Ursache für die Kälte gewesen, die sie mir zeigte. Und ich gestand Myrine, meine Versöhnungsangebote waren halbherzig; obwohl ich doch wußte, Penthesilea würde fallen. Woher! fragte Myrine mich mit einem Anflug ihrer früheren Heftigkeit, aber ich war nicht mehr eifersüchtig auf Penthesilea. Tote sind nicht eifersüchtig aufeinander. Sie fiel, weil sie fallen wollte. Oder weshalb glaubst du, kam sie nach Troia? Und ich hatte Grund, sie genau zu beobachten, da sah ich es. Myrine schwieg. Mehr als alles an ihr hatte mich immer ihr Haß auf meine Voraussagen entzückt, die ich ja niemals aussprach, wenn sie dabei war, doch eilfertig hat man sie immer unterrichtet, auchvon meiner beiläufig einmal erwähnten Gewißheit, ich würde getötet werden, die sie mir, anders als die anderen, nicht durchgehn ließ. Woher ich mir das Recht auf solche Sprüche nähme. Ich antwortete nicht, schloß die Augen, vor Glück. Endlich nach so langer Zeit wieder mein Körper. Wieder der heiße Stich durch mein Inneres. Wieder die Schwäche für einen Menschen, ganz. Wie sie mich anging. Sie habe mir nicht gelegen, Penthesilea, die männermordende Kämpferin, wie? Ob ich denn glaubte, sie, Myrine, habe weniger Männer umgebracht als ihre Heerführerin? Nicht eher mehr, nach Penthesileas Tod, um sie zu rächen?
    Ja mein Pferdchen, aber das war etwas andres.
    Das war dein geballter Trotz und deine flammende Trauer um Penthesilea, die ich, was denkst du denn, verstand. Da war ihre tief verkrochene Scheu, ihre Furcht vor Berührung, die ich niemals

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