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Kassandra

Kassandra

Titel: Kassandra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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faßte, die seinen Staat zusammenhielten, auch die nicht, die ihn bedrohten. Das machte ihn nicht zum idealen König, doch war er der Mann der idealen Königin, das gab ihm Sonderrechte. Abend für Abend, ich seh ihn noch, ist er zur Mutter gegangen, die, häufig schwanger, in ihrem Megaron saß, auf ihrem hölzernen Lehnstuhl, der einem Thron sehr ähnlich sah und an den der König sich, liebenswürdig lächelnd, einen Hocker heranzog. Dies ist mein frühestes Bild, denn ich, Liebling des Vaters und an Politik interessiert wie keines meiner zahlreichen Geschwister, ich durfte bei ihnen sitzen und hören, was sie redeten, oft auf Priamos’ Schoß, die Hand in seinerSchulterbeuge (die Stelle, die ich an Aineias am meisten liebe), die sehr verletzlich war und wo, ich sah es selbst, der Speer des Griechen ihn durchbohrte. Ich, der sich die Namen der fremden Fürsten, Könige und Städte, der Waren, mit denen wir handelten oder die wir auf unseren berühmten Schiffen durch den Hellespont beförderten, die Zahlen der Einnahmen und die Erörterung ihrer Verwendung mit dem strengen sauberen Geruch des Vaters für immer vermischten – Fürsten, die gefallen, Städte, die verarmt oder zerstört,Waren, die verdorben oder geraubt sind: Ich bin es gewesen, von allen seinen Kindern ich, die, wie der Vater meinte, unsre Stadt und ihn verraten hat.
    Für alles auf der Welt nur noch die Vergangenheitssprache. Die Gegenwartssprache ist auf Wörter für diese düstre Festung eingeschrumpft. Die Zukunftssprache hat für mich nur diesen einen Satz: Ich werde heute noch erschlagen werden.
    Was will der Mann. Spricht er zu mir? – Ich müsse doch Hunger haben. – Ich nicht, er hat Hunger, er will die Pferde einstellen und endlich in sein Haus kommen, zu seinen Leuten, die ihn ungeduldig umstehn. – Ich solle doch seiner Königin folgen. Ruhig in die Burg gehn, mit den beiden Wächtern, die zu meinem Schutz, nicht zur Bewachung auf mich warten. – Ich werde ihn erschrecken müssen. – Ja, sag ich ihm, ich geh. Nur jetzt noch nicht. Laß mich noch eine kleine Weile hier. Es ist nämlich, weißt du, sag ich ihm, und suche ihn zu schonen: Wenn ich durch dieses Tor gegangen bin, bin ich so gut wie tot.
    Das alte Lied: Nicht die Untat, ihre Ankündigung macht die Menschen blaß, auch wütend, ich kenn esvon mir selbst. Und daß wir lieber den bestrafen, der die Tat benennt, als den, der sie begeht: Da sind wir, wie in allem übrigen, alle gleich. Der Unterschied liegt darin, ob mans weiß.
    Ich hab es schwer gelernt, weil ich, gewohnt, die Ausnahme zu sein, mich unter kein gemeinsames Dach mit allen zerren lassen wollte. Da schlug ich Panthoos, als er am Abend jenes Tags, an dem er mich zur Priesterin geweiht, mir sagte: Dein Pech, kleine Kassandra, daß du deines Vaters Lieblingstochter bist. Geeigneter, das weißt du, wäre Polyxena: Sie hat sich vorbereitet, du verläßt dich auf deinen Rückhalt bei ihm. Und, wie es scheint – ich fand sein Lächeln unverschämt, als er das sagte –, auch auf deine Träume.
    Dafür schlug ich ihm ins Gesicht. Sein Blick durchfuhr mich, doch er sagte nur: Und jetzt verläßt du dich darauf, daß ich zwar der erste Priester, aber doch bloß ein Grieche bin.
    Er traf die Wahrheit, doch nicht ganz und gar, denn weniger, als er sich vorstellen konnte, ließ ich mich von Berechnung leiten. (Auch unsre Berechnung wird, uns unbewußt, geleitet, ja, ich weiß!) Der Traum die Nacht zuvor kam ungerufen, und er hat mich sehr verstört. Daß es Apollon war, der zu mir kam, das sah ich gleich, trotz der entfernten Ähnlichkeit mit Panthoos, von der ich kaum hätte sagen können, worin sie bestand. Am ehesten im Ausdruck seiner Augen, die ich damals noch »grausam«, später, bei Panthoos – nie wieder sah ich Apoll! – nur »nüchtern« nannte. Apollon im Strahlenglanz, wie Panthoos ihn mich sehen lehrte. Der Sonnengott mit der Leier, blau, wenn auch grausam, die Augen, bronzefarben die Haut. Apollon, der Gott der Seher.Der wußte, was ich heiß begehrte: die Sehergabe, die er mir durch eine eigentlich beiläufige, ich wagte nicht zu fühlen: enttäuschende Geste verlieh, nur um sich mir dann als Mann zu nähern, wobei er sich – ich glaubte, allein durch meinen grauenvollen Schrecken – in einen Wolf verwandelte, der von Mäusen umgeben war und der mir wütend in den Mund spuckte, als er mich nicht überwältigen konnte. So daß ich beim entsetzten Erwachen einen unsagbar widerwärtigen Geschmack auf der

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