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Kassandra

Kassandra

Titel: Kassandra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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lösche die Menschheit aus? Wußte ich denn nicht, wie immer die Sklavinnen des besiegten Stamms dieFruchtbarkeit der Sieger mehren mußten? Wars Überheblichkeit der Königstochter, daß ich nicht anders konnte als sie alle, alle Troerinnen – die Troer sowieso – in unseres Hauses Tod hineinzuziehn? Erst spät, und mühsam, lernte ich die Eigenschaften, die man an sich kennt, von jenen unterscheiden, die angeboren sind und fast nicht zu erkennen. Umgänglich, bescheiden, anspruchslos sein – das gehörte zu dem Bild, das ich mir von mir selber machte und das sich aus jeder Katastrophe beinah unversehrt erhob. Mehr noch: Wenn es sich erhoben, lag die Katastrophe hinter mir. Habe ich etwa, um mein Selbstgefühl zu retten – denn aufrecht, stolz und wahrheitsliebend gehörte auch zu diesem Bild von mir –, das Selbstgefühl der Meinen allzu stark verletzt? Habe ich ihnen, unbeugsam die Wahrheit sagend, Verletzungen heimgezahlt, die sie mir beigebracht? Dies, glaube ich, hat Panthoos der Grieche doch von mir gedacht. Er kannte sich, ertrug sich, wie ich spät bemerkte, schwer und suchte sich zu helfen, indem er für jede Handlung oder Unterlassung einen einzigen Grund nur zuließ: Eigenliebe. Zu tief war er von der Idee durchdrungen, die Einrichtung der Welt verbiete es, zugleich sich selbst und anderen zu nützen. Nie, niemals wurde seine Einsamkeit durchbrochen. Doch hatte er kein Recht, das weiß ich heute, mich ihm ähnlich oder gleich zu finden. Am Anfang, ja, mag sein, wenn auch nur in diesem einen Punkt, den Marpessa Hochmut nannte. Das Glück, ich selbst zu werden und dadurch den andern nützlicher – ich hab es noch erlebt. Ich weiß auch, daß nur wenige es bemerken, wenn man sich verändert. Hekabe die Mutter hat mich früh erkannt und sich nicht weiter um mich gekümmert. Dies Kind brauchtmich nicht, hat sie gesagt. Dafür hab ich sie bewundert und gehaßt. Priamos der Vater brauchte mich.
    Wenn ich mich umdreh, seh ich Marpessa, die lächelt. Seit es ernst wird, seh ich sie fast nur noch lächeln. Die Kinder, Marpessa, werden nicht davonkommen, es sind die meinen. Du, denk ich, ja. – Ich weiß, sagt sie. – Sie sagt nicht, ob sie davonkommen will oder nicht. Die Kinder wird man ihr wegreißen müssen. Vielleicht wird man ihr die Arme brechen müssen. Nicht, weil es meine – weil es Kinder sind. – Zuerst bin ich dran, Marpessa. Gleich nach dem König. – Marpessa antwortet mir: Ich weiß. – Dein Hochmut, Marpessa, stellt noch den meinen in den Schatten. – Und sie, lächelnd, erwidert: So muß es sein, Herrin.
    Wie viele Jahre hat sie mich nicht mehr mit Herrin angeredet. Wohin sie mich geführt, bin ich nicht Herrin, nicht Priesterin gewesen. Daß ich dies erfahren durfte, macht mir das Sterben leichter. Leichter? Weiß ich, was ich sage?
    Nie werde ich erfahren, ob diese Frau mich geliebt hat, um deren Neigung ich mich bewarb. Zuerst aus Gefallsucht, mag sein, etwas in mir hat früher danach verlangt zu gefallen. Später, weil ich sie kennen wollte. Da sie mir bis zur Selbstaufgabe diente, hat sie die Zurückhaltung wohl gebraucht.
    Wenn die Angst abebbt, wie eben jetzt, fällt mir Fernliegendes ein. Warum haben die Gefangenen aus Mykenae ihr Löwentor noch gewaltiger beschrieben, als es mir erscheint? Warum schilderten sie die Zyklopenmauern ungeheurer, als sie sind, ihr Volk gewalttätiger und rachsüchtiger, als es ist? Gern und ausschweifend haben sie mir von ihrer Heimat erzählt, wie alleGefangenen. Keiner hat mich je gefragt, warum ich so genaue Erkundigungen über das feindliche Land einzog. Und warum tat ich es denn, zu einer Zeit, als auch mir sicher schien, daß wir siegten? Da man den Feind schlagen, nicht aber kennen sollte? Was trieb mich, ihn zu kennen, da ich den Schock: Sie sind wie wir! für mich behalten mußte. Wollte ich wissen, wo ich sterben würde? Dacht ich ans Sterben? War ich nicht triumphgeschwollen wie wir alle?
    Wie schnell und gründlich man vergißt.
    Der Krieg formt seine Leute. So, vom Krieg gemacht und zerschlagen, will ich sie nicht im Gedächtnis behalten. Dem Sänger, der noch bis zuletzt den Ruhm des Priamos sang, hab ich eins aufs Maul gegeben, würdeloser schmeichlerischer Wicht. Nein. Vergessen will ich den zerrütteten, verwahrlosten Vater nicht. Doch auch den König nicht, den ich als Kind über alle Menschen liebte. Der es nicht ganz genau nahm mit der Wirklichkeit. Der in Phantasiewelten leben konnte; nicht ganz scharf die Bedingungen ins Auge

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