Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
hinter dem Altar. Dort befand sich das Arbeitszimmer der Ehrwürdigen Mutter. Eine alte Nonne trieb die Nachzüglerinnen zur Eile an. Valentine und Mireille warfen sich einen vielsagenden Blick zu und traten ein.
Es war seltsam, auf diese Weise in das Arbeitszimmer der Äbtissin befohlen zu werden. Nur wenige Nonnen kannten den Raum, und meist wurde man nur aus disziplinarischen Gründen dorthin beordert. Über Valentine gab es viele Klagen, und deshalb war sie allzu oft schon hier gewesen. Die Klosterglocke rief zwar üblicherweise die Nonnen zusammen. Aber man konnte doch nicht alle Nonnen gleichzeitig in das Zimmer der Äbtissin rufen?
Als sie den großen Raum mit der niedrigen Balkendecke betraten, sahen Valentine und Mireille, daß sich wahrhaftig alle Nonnen versammelt hatten - es waren über fünfzig anwesend. Sie saßen auf harten Holzbänken, die man aus diesem Anlaß vor dem Schreibtisch der Äbtissin aufgestellt hatte, flüsterten besorgt miteinander und machten ängstliche und erschrockene Gesichter. Die beiden Cousinen suchten sich einen Platz in der letzten Reihe, und Valentine umklammerte Mireilles Hand. „Was soll das bedeuten?“ fragte sie leise.
„Nichts Gutes“, erwiderte Mireille ebenso leise, „die Ehrwürdige Mutter wirkt sehr ernst. Und diese beiden Frauen dort habe ich noch nie gesehen.“
Die Äbtissin stand am Ende des langen Raums hinter einem schweren, glänzend polierten Schreibtisch aus Kirschbaumholz. Obwohl ihre Haut so faltig und ledrig war wie altes Pergament, strahlte diese Frau noch immer die Kraft und Würde ihres hohen Amtes aus. Ihre Haltung wirkte entrückt, als habe sie schon vor langer Zeit ihren Seelenfrieden gefunden. Aber heute wirkte sie so ernst, wie noch keine ihrer Nonnen sie gesehen hatte.
Zwei fremde, junge und kräftige Frauen standen wie Racheengel an Ihrer Seite. Die eine hatte helle Haut, dunkles Haar und strahlende Augen; die andere - mit etwas dunklerem Teint und hellen kastanienbraunen Haaren - besaß eine starke Ähnlichkeit mit Mireille. Die beiden Frauen wirkten ihrer Haltung nach wie Nonnen, aber sie trugen keinen Habit, sondern einfache und unauffällige graue Reisekleidung.
Die Äbtissin wartete, bis alle Nonnen Platz genommen hatten und die Tür geschlossen worden war. Als völlige Stille herrschte, sprach sie mit dieser eigenartigen Stimme, die Valentine immer an ein trockenes Blatt erinnerte, das zwischen den Fingern zerdrückt wird.
„Meine Töchter“, sagte sie und faltete die Hände vor der Brust, „das Kloster von Montglane steht seit beinahe eintausend Jahren auf diesem Felsen. Unser Orden erfüllt seine Pflicht gegenüber den Menschen, und er dient Gott. Wir leben zwar abgeschieden in der Einsamkeit dieser Berge, aber wir hören auch hier das Grollen einer Welt im Umbruch. In unserem kleinen, bescheidenen Winkel haben uns schlechte Nachrichten ereilt. Es sieht so aus, als sei das Ende der Sicherheit gekommen, deren wir uns so lange erfreuen durften. Die beiden Frauen an meiner Seite bringen uns diese Nachrichten. Ich stelle euch Schwester Alexandrine de Forbin vor“ — die Äbtissin deutete auf die dunkelhaarige Frau — „und Marie-Charlotte de Corday. Sie leiten zusammen das Kloster der Damen von Caen in der nördlichen Provinz. In Verkleidung haben sie die lange, schwere Reise durch Frankreich unternommen, um uns zu warnen. Ich bitte euch deshalb, hört aufmerksam zu, was sie uns zu sagen haben. Es ist für uns alle von größter Bedeutung.“
Die Äbtissin setzte sich auf ihren Platz. Die Frau, die sie als Alexandrine de Forbin vorgestellt hatte, räusperte sich und sprach dann so leise, daß die Nonnen sie nur mit Mühe verstehen konnten. Aber ihre Worte waren klar und deutlich.
„.Meine Schwestern in Gott“, begann sie, „unsere Geschichte ist nichts für Zartbesaitete. Einige von uns sind in der Hoffnung zu Christus gekommen, die Menschheit zu retten. Andere wollen der Welt entfliehen. Welcher Grund auch euer Herz bewegt haben mag, seit heute hat sich alles geändert. Auf unserer Reise sind Schwester Charlotte und ich durch ganz Frankreich, durch Paris und durch jedes Dorf auf diesem Weg gekommen. Wir haben nicht nur Hunger gesehen, sondern eine schreckliche Hungersnot. Die Menschen plündern und rauben für eine Scheibe Brot. Männer werden gemordet. Frauen tragen auf Spießen abgeschlagene Köpfe durch die Straßen. Es gibt Vergewaltigungen und noch Schlimmeres. Kleine Kinder werden getötet, Leute auf öffentlichen
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