Katja Henkelpott 2 - Katja Henkelpott und die Schlangekoenigin
noch ein alleinstehendes Kind, und weil ich demnächst in die Schule komme, brauche ich nicht mehr den ganzen Tag im Kindergarten zu bleiben. Viele Mädchen und Jungen sind deshalb neidisch auf mich. Wenn sie sich nach dem Essen hinlegen müssen, weil sie schlafen sollen, worauf sie keine Lust haben, hebe ich die Nase und rufe locker: »Tschü-üs!« Dann haue ich ab.
Ich bin nämlich nicht nur Mittagskind, ich bin auch ein Schlüsselkind und darf alleine nach Hause gehen. Wir wohnen gleich um die Ecke. Vor der Ecke ist ein kleiner Supermarkt, und davor steht eine Straßenlaterne.
Eines Tages, als ich meinen Beutel schlenkerte und nach Hause hüpfen wollte, sah ich, daß ein Hund an den Laternenpfahl gebunden war. Er blickte mich so vorwurfsvoll an, daß ich stehenblieb.
Ich grüßte höflich: »Hallo, Hund.«
Er legte den Kopf schief und winselte.
Da hockte ich mich nieder und fragte: »Darf ich dich streicheln?«
Ich glaube, er hat »Ja« genickt.
Der Hund war so groß wie ein Plüschtier, das man mit zwei Armen halten muß, und er hatte ein schönes Gesicht. Die rotblonde Zottelmähne hing ihm tief in die Stirn, der Schnurrbart reichte ihm bis über die Schnauze, und seine Augen waren so schwarz und so glänzend wie seine plattgedrückte Nase. Ich habe mich sofort in ihn verknallt.
Natürlich weiß ich, daß Hunde nicht sprechen können, deshalb habe ich gar nicht erst nach seinem Namen gefragt. Es kann aber sein, daß kluge Tiere jedes Wort verstehen und sogar lesen und rechnen können. Das hab ich mal im Zirkus gesehen.
Ich sagte: »Wahrscheinlich ist dein Frauchen oder dein Herrchen einkaufen gegangen. Nun mußt du warten. Damit dir die Zeit nicht so lang wird, will ich dir Gesellschaft leisten. Ich bin nämlich ein Mittagskind, weil das etwas preiswerter ist. Manchmal bin ich genauso traurig wie du. Ich bin auch oft allein und muß warten, bis meine Eltern endlich von der Arbeit kommen.«
Der Hund spitzte aufmerksam die Ohren, weil es sehr interessant war, was ich ihm erzählte.
Ich sagte: »Rück doch ein Stück zur Seite, Hund. Ich möchte mich zu dir setzen.«
Er machte mir Platz, und dann winselte er, weil ich weiterreden sollte.
Ich stellte ihm meine Familie vor. »Weißt du, mein Vater hat sehr lange studieren müssen, bis er ein Doktor war und alles über den Schiffsmaschinenbau wußte. Aber in den neuen Ländern werden nur wenige Maschinen gebaut. Er ist entlassen worden. Gott sei Dank hat er eine ABM, eine Ar-beits-be-schaf-fungs-maß-nah-me.« Ich sagte das Wort Silbe für Silbe vor, weil es für einen Hund schwer zu verstehen ist. »Mein Vater hat früher mit dem Kopf gearbeitet, jetzt arbeitet er mit dem Körper. Er ist nämlich beim Straßenbau und darf sich bei heißem Wetter das Hemd ausziehen und seinen Rücken bräunen lassen. Meine Mutter kann sich das nicht leisten. Sie sitzt bei Aldi an der Kasse.«
Nach einer halben Stunde hatte ich mich ausgesprochen, und es war immer noch niemand gekommen, der den Hund vom Laternenpfahl losgebunden hätte. Ich kenne die Uhr, ich kann schon zählen, was die Stunde geschlagen hat. Halb drei. Ich mußte gehen, also streichelte ich das schöne Tier und sagte: »Tschü-üs!«
Der Hund war nicht einverstanden und machte einen solchen Aufriß, daß er beinahe die Leine zerfetzt hätte.
Ich sagte: »Es tut mir leid.« Und ging.
Aber so richtig leid hat er mir erst am nächsten Morgen getan, als mich mein Vater zum Kindergarten brachte. Der arme Hund war immer noch an dem Laternenpfahl festgebunden.
Ich jammerte.
Mein Vater sagte: »Wir müssen lernen, das Mitleid im Zaum zu halten. Mir hat auch kein Hund geholfen.«
Mittags, als ich nach Hause hüpfen wollte, war der Hund immer noch an die Laterne gefesselt. Vorsichtshalber hatte ich mir das Frühstücksbrot vom Munde abgespart und konnte ihn füttern.
Er fraß gierig. Dann kam es mir vor, als ob er durstig wäre. Er hechelte und ließ die Zunge aus der Schnauze baumeln. Zum Glück hatte ich eine Mark in der Tasche, und zuerst wollte ich im Supermarkt eine Limo kaufen, dann ließ ich es sein. Ich weiß nicht, ob Hunde lieber Orange oder Zitrone mögen.
Und dann hatte ich eine gute Idee. Ich knüpperte so lange an der Leine, bis der Knoten gelöst war. Obwohl ich kein Wort sagte, verstand mich das kluge Tier. Es hüpfte begeistert auf und ab und küßte meine Hände. Wenn ich noch einmal höre, daß jemand zu einem anderen sagt: Du dummer Hund!, dem zeige ich die Zähne, die ich nicht mehr
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