Katja Henkelpott 2 - Katja Henkelpott und die Schlangekoenigin
Wenn man alt wird
Wer mich liebhat, nennt mich Katja Henkelpott. In Wahrheit heiße ich mit Nachnamen Habenicht und wohne in Rostock. Das ist eine Stadt mit vielen alten Türmen. Sie liegt in den neuen Bundesländern und ist ganz nahe ans Wasser gebaut. Aber das habe ich, glaube ich, schon erzählt.
Inzwischen bin ich sechs Jahre alt und komme demnächst in die Schule. Ich kämme mir immer noch zwei Pferdeschwänze. Der eine biegt sich über dem rechten Ohr, der andere über dem linken. Das sieht aus, als ob mein Kopf zwei Henkel zum Anfassen hätte.
Mein Vater sagt, ich wäre eine kleine Persönlichkeit. Das stimmt. Wenn ich mich ausstrecke, bin ich beinahe so groß, wie der Boden der Badewanne lang ist, und ich brauch nur den Mund aufzuklappen, dann kann jeder meine Zahnlücken sehen. Sie entstehen, sobald sich ein Mensch entwickelt. Als ich kleiner war, hatte ich Vorderzähne, so lang wie die von einem Karnickel. Manchmal zog ich den Mund breit, als ob ich knurren wollte, dann schoben sie sich auf die Unterlippe. Damit konnte ich sogar große Jungen erschrecken. Seit mir die schönen Zähne ausgefallen sind, zuckt niemand mehr vor mir zusammen. Zum Knurren braucht man das ganze Gebiß.
Dann wackelten auch noch unten die Eckzähne. Weil ich keinen Biß mehr hatte, konnte ich mein Brötchen nur noch mümmeln, und manchmal kamen mir die Tränen, weil es so traurig ist, daß alles nicht mehr so richtig funktioniert, wenn man alt wird.
Meine Mutter nahm mich in die Arme. Sie wiegte und tröstete mich. Die Natur würde mir nagelneue Zähne schenken, und ich bräuchte wahrscheinlich nicht einmal bis Weihnachten zu warten. Das alte Milchgebiß ist eigentlich nur für Brei und Pudding vorgesehen, die neuen Zähne sind haltbarer. Es dauert eine ganze Weile, bis man sie wieder verliert. Inzwischen muß der Mensch etwas gespart haben, weil die Krankenkasse nicht so freundlich ist wie die Natur und leider nicht für den ganzen Zahnersatz aufkommen will, sondern nur für den halben. Wenn sich die Großeltern nichts zurückgelegt haben, was sie vorholen können, müssen sie bald so herumlaufen wie ich, nämlich mit fünfzig oder sechzig Prozent im Gesicht. Das wäre ja furchtbar.
Als ich kaum noch was zu beißen hatte, weil die unteren Eckzähne wackelten, sagte meine Freundin Tina: »Die müssen raus!« Sie hatte ein Rezept, wie man Zähne ohne Zahnarzt ziehen kann. Das haben wir ausprobiert, als wir alleine in der Wohnung waren.
Tina fragte: »Hast du Mut?«
Ich sagte sehr tapfer: »Ja.«
Tina machte die Wohnzimmertür sperrangelweit auf und ließ sich einen langen Zwirnsfaden geben. Das eine Ende wickelte sie um die Türklinke, das andere verknotete sie an meinem Zahn, und zuerst hat der Zwirnsfaden einen Durchhänger bis auf die Auslegware gehabt. Dann wurde es spannend. Tina rief: »Bleib, wo du bist, und rühr dich nicht!« Ich gehorchte. Da hat Tina die Tür mit solcher Gewalt zugeschlagen, daß die Fensterscheiben klirrten, der Faden sich anspannte und mir den Zahn mit einem einzigen Ruck aus dem Kiefer riß. Er ist bis in die Schrankwand geflogen. Wir mußten lange suchen, bis wir ihn in einer Schale zwischen den Butterkeksen fanden. Diese erste Zahnoperation war so schön gruselig, daß wir gleich die zweite wagten. Diesmal sprang der Zahn in die Deckenlampe, wo er noch heute herumliegt. Als ich mich im Spiegel betrachtete, kam ich mir wie eine echte Hexe vor.
Später habe ich ausprobiert, ob ich auch auf andere Menschen einen Eindruck mache. Ich bin die Treppe hinuntergeschlichen, als Frau Rahmhase nach Hause kam. Viele Leute haben Angst vor ihr. Sie verwaltet uns für den neuen Hausbesitzer. Das ist ein Millionär, der noch nicht reich genug ist und deshalb die Miete heraufgesetzt hat. Meine Eltern haben mir eingeschärft, ich soll freundlich und höflich zu Frau Rahmhase sein. Sie hatte ein tomatenrotes Gesicht, wahrscheinlich vom Treppensteigen. Ich bin ihr mutig entgegengetreten, habe einen Knicks gemacht, den Mund aufgerissen und mit sämtlichen Zahnlücken gelächelt. Da hat Frau Rahmhase die Tasche abgesetzt, sich dahin gefaßt, wo bei ihr das Herz sitzt, und »Großer Gott!« gesagt.
Die weiß jetzt, daß ich eine Hexe bin, und traut sich bestimmt nicht mehr, die Miete zu steigern, oder ich zeige ihr jeden Tag die Zähne, die ich nicht mehr habe.
Alleinstehendes Mittagskind
Obwohl ich mir schon lange ein Geschwisterchen wünsche, hat es bei meinen Eltern leider nicht gefunkt. Ich bin also immer
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