Katrin mit der großen Klappe
natürlich nicht Kohl und
Obst und... und Hasenbraten, sondern eben alles, was man zum Leben braucht!“
„Verbrauchsgüter also“, sagte
Katrin.
„Was denn sonst?“
„Wenn du es weißt, warum sagst
du es denn nicht?“
„Ich wollte dir ja bloß
helfen!“
„Ha, ha, ha! Auf deine Hilfe
bin ich zum Glück nicht angewiesen“, erklärte Katrin großspurig.
„Wenn ihr mit eurem privaten
Gezänk fertig seid“, sagte Frau Dr. Mohrmann, „können wir vielleicht
weitergehen!“
„Ja, bitte“, sagte Katrin und
warf Silvy einen Blick von oben herab zu. „Was ich gerade sagen wollte...
Industriegesellschaft ist eine Gemeinschaft, die durch die Industrie geprägt
wird.“
„Sehr gut“, lobte Frau Dr.
Mohrmann.
Katrin setzte sich und
murmelte: „Kleine Fische!“ — Aber sie tat es vorsichtshalber so leise, daß die
Lehrerin sie nicht hören konnte.
Silvy Heinze meldete sich so
nachdrücklich, daß Frau Dr. Mohrmann nicht umhin konnte, sie aufzurufen.
„Es gibt aber auch eine
Lebensmittelindustrie!“ sagte Silvy und sah sich herausfordernd im Kreise ihrer
Mitschülerinnen um, als wäre sie fest entschlossen, jeden Widerspruch im Keim
zu ersticken. Aber dazu kam es gar nicht.
„Stimmt“, sagte Frau Dr.
Mohrmann, „aber die Lebensmittel werden in der Industrie nicht hergestellt,
sondern nur verarbeitet.“
„Aber nicht mehr lange“,
behauptete Silvy. „Vielleicht kann man schon bald Lebensmittel künstlich
erzeugen...“
„Chemisches Brot?“ fragte eine
Schülerin von ganz hinten.
„Ja, vielleicht“, sagte Silvy,
„aber möglicherweise auch Brot in Pillenform oder...“
Wieder lachten alle außer Olga,
die immer noch mit verbissener und finsterer Miene dasaß.
„Es ist nicht ausgeschlossen,
daß es eines Tages so weit kommt“, sagte Frau Dr. Mohrmann und ging zum Fenster
hin.
Silvy benutzte den Augenblick,
da sie der Klasse den Rücken zuwandte, um den anderen die Zunge
herauszustrecken und ein lautloses: „Bäh!“ mit den Lippen zu formen.
„…aber wir wollen uns jetzt
nicht mit der Zukunft und allen ihren Möglichkeiten befassen, sondern mit der
Gegenwart.“ Frau Dr. Mohrmann ließ die Sonnenblende vor das vordere Fenster
gleiten und drehte sich wieder um. „Habt ihr schon einmal darüber nachgedacht,
was es für uns bedeutet, in einer Industriegesellschaft zu leben?“ fragte sie.
Niemand meldete sich, nicht
einmal die siebengescheite Silvy.
„Denkt, bitte, mal darüber
nach!“
Ruth Kleiber hob, ein wenig
zaghaft, den Finger.
„Ja?“
„Viele Sachen sind billiger als
früher“, sagte Ruth unsicher und fügte in einem Atemzug hinzu: „Oder etwa
nicht?“
„Natürlich nicht!“ rief Silvy,
ohne gefragt zu sein. „Wie kommst du denn auf den Quatsch? Meine Mutter sagt,
daß alles ständig teurer wird, und mein Vater...“
„Still!“ fuhr Frau Dr. Mohrmann
dazwischen. „Jetzt ist Ruth dran! Bitte, Ruth, erkläre uns doch mal, warum du
glaubst, daß viele Verbrauchsgüter billiger geworden sein könnten?“
„Ich weiß nicht“, sagte Ruth
verwirrt.
„Irgend etwas wirst du dir doch
dabei gedacht haben! Olga, willst du deiner Freundin nicht helfen?“
„Nein“, sagte Olga mit
erstickter Stimme.
„Sie schmollt wieder mal!“ rief
eine Stimme aus dem Hintergrund.
„Daß dir das nicht selber
albern vorkommt, Olga“, sagte Frau Dr. Mohrmann. „Bitte, wer von euch findet,
daß Ruth recht hat? Wer weiß ein Argument, mit dem man Ruths Behauptung
untermauern könnte?“
Leonore Müller hob den Finger,
und Frau Dr. Mohrmann nickte ihr zu.
„Der Handwerker“, sagte Leonore
langsam, „macht einen Gegenstand, sagen wir mal einen Anzug, von Anfang an. Nur
der Stoff und die Zutaten werden ihm geliefert. Er schneidet den Anzug für
einen einzelnen Menschen zu, näht ihn, läßt ihn anprobieren, vielleicht sogar
zweimal und dreimal, füttert ihn, näht die Knöpfe an...“
„Wozu erzählst du uns das?“
rief Silvy. „Das wissen wir doch selber!“
„Silvy“, mahnte Frau Dr.
Mohrmann, „wenn du noch einmal dazwischenredest, ist eine Strafarbeit fällig,
verstanden?“
„Jawohl, Frau Doktor“, sagte
Silvy — aber nicht etwa reuevoll, sondern in einem geradezu herablassenden Ton.
„In der Fabrik“, fuhr Leonore
fort, „werden, sagen wir mal, hundert Anzüge auf einmal hergestellt, alle in
einer Größe, und ich glaube, bloß der Zuschneider braucht ein wirklich
gelernter Schneidermeister zu sein. Das Nähen, Füttern, Knöpfeannähen wird
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