Katrin Sandmann 01 - Schattenriss
fest zusammengeklemmt. Ihr Blick ruhte auf ihren Händen, die flach auf dem engen, beigefarbenen Rock lagen. Auf dem Kragen ihrer lindgrünen Bluse, die sich straff um ihren fülligen Oberkörper spannte, war ein kleiner, hässlicher Fettfleck. Um den Hals trug sie eine schmale, goldene Kette mit einem schlichten Kreuz. Sylvia Arnold blickte nur kurz auf, als ihr Mann mit dem Polizeibeamten das Zimmer betrat. Dieter Arnold bot Halverstett mit einer Handbewegung einen Platz an. Der Polizist setzte sich auf einen der Sessel und suchte nach Worten, als Sylvia Arnold plötzlich anfing zu sprechen.
„Sie ist öfter Mal über Nacht weggewesen . So ist das heute. Ich hab das damals natürlich nie gedurft. Aber Tamara hatte ihren eigenen Kopf. Sie hat nur gemacht, was sie wollte. Die anderen Mädchen dürfen das auch, hat sie gesagt. Wir konnten sie ja nicht einsperren. Außerdem ist sie nie länger weggeblieben. Immer nur für eine Nacht.“
Sie verstummte so plötzlich wie sie angefangen hatte. Sie hielt den Kopf gesenkt und starrte ununterbrochen auf ihre Hände, die immer noch schwer, wie versteinert, auf ihren Oberschenkeln lagen.
„Es tut mir Leid, Frau Arnold. Ich weiß, dass meine Kollegen schon hier waren, aber ich muss Ihnen noch ein paar Fragen stellen.“ Halverstett räusperte sich. „Wann haben Sie Ihre Tochter zum letzten Mal gesehen?“ Er blickte fragend von einem zum anderen.
„Am späten Nachmittag gestern. So gegen sechs oder sieben. Sie hat gesagt, dass sie noch mal weg muss und dass sie noch nicht weiß, wann sie wiederkommt.“ Dieter Arnold sprach leise, beinahe tonlos. Er war abwartend stehen geblieben, jetzt setzte er sich zu seiner Frau. Er zupfte eine unsichtbare Fluse von seinem Hosenbein. „Ist es wahr, dass man sie auf dem Friedhof gefunden hat?“
„Ja, auf dem Südfriedhof. Auf einem Grab. Wo waren Sie, als meine Kollegen mit dem Foto hier waren?“
„Arbeiten. Sylvia hat mich angerufen und ich bin sofort nach Hause gekommen.“
Halverstett holte sein Notizbuch aus der Jacketttasche.
„Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?“ Er sah Dieter Arnold an.
„Ich bin Sachbearbeiter. Bei einer Versicherung. Meine Frau arbeitet im Krankenhaus, in der Wäscherei. Heute hat sie sich allerdings krank gemeldet. Migräne.“ Er schwieg einen Augenblick und musterte konzentriert den Teppich. Dann fragte er kaum hörbar:
„Wie ist es passiert?“
„Ihre Tochter hatte aufgeschnittene Pulsadern. Wir müssen von Selbstmord ausgehen. Mehr kann ich im Augenblick leider noch nicht sagen.“
Dieter Arnold hob den Kopf. In seinem Blick lag ungläubiges Entsetzen. Sylvia Arnold starrte weiterhin ausdruckslos auf ihre Hände. Nur ein leichtes Zucken in den Fingern verriet, dass sie Halverstetts Worte genau gehört hatte.
„Das kann nicht sein! Warum sollte unser Kind sich umbringen? Sie hat es gut gehabt, hat alles bekommen, was sie wollte. Sie hat sich nicht umgebracht, nicht unser Mädchen.“ Dieter Arnold schüttelte heftig den Kopf. Dann fixierte er Halverstett . In seinen Augen lag Empörung und eine Spur von Panik.
„Sie hat sich nicht umgebracht“, wiederholte er beinahe trotzig, „dazu hatte sie gar keinen Grund.“
Er ergriff die linke Hand seiner Frau und drückte sie. Sylvia reagierte nicht. Halverstett hakte nach.
„Vielleicht gab es ja etwas in der Schule. War Tamara eine gute Schülerin? Oder hatte sie irgendwelche Schwierigkeiten? Hatte sie vielleicht einen Freund?“
„Tamara war sehr begabt. Ihre Lehrer haben große Hoffnungen auf sie gesetzt.“
Plötzlich fing Sylvia Arnold wieder an zu sprechen.
„Ihr fiel alles so leicht. Schon als kleines Mädchen. Sie hat so schnell begriffen. Ihre Lehrerin in der Grundschule, Frau Winter, hat immer gesagt, aus Ihrer Tochter wird mal was ganz Großes. Tamara ist sehr begabt, hat sie gesagt. Sie konnte all diese komplizierten Dinge in Mathe und so, und dabei hat sie kaum was dafür getan. Sie war ein gutes Kind.“
„Ist sie denn gern zur Schule gegangen?“
„Ja natürlich. Sie war eine vorbildliche Schülerin. Außerdem mochte sie Frau Winter besonders gern.“
„Und in letzter Zeit?“
Sylvia Arnold schwieg. Ihr Mann antwortete an ihrer Stelle.
„Sie hat ein paar Mal blau gemacht. Nicht sehr oft. Das ist doch normal in dem Alter. Sie ist fünfzehn – “ , er stockte, „ich meine, sie war fünfzehn. Da hat man andere Dinge im Kopf.“
„Was für andere Dinge?“
„Was weiß ich, Freundinnen, Kino,
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