Katzenhöhle
den Schultern, schaute zuerst sie verzweifelt an und dann den Bogen Papier, den er immer noch fest umklammert hielt.
»Ich weiß, was da drin steht«, sagte Lilian grimmig.
Julian nickte. »Sie hatten Recht, Frau Kommissarin. Als ich gekommen bin, hat Lena mir den Brief zum Lesen gegeben. Sie hat Gisela umgebracht, weil sie ihre Stelle haben wollte. Ganz zufällig haben sie sich kennen gelernt, in einem Café in der Stadt. Und ich war so blauäugig! Auch die eigene Schwester hat sie auf dem Gewissen. Sie brauchte dringend Geld, und Mira hat ihr nebenbei erzählt, dass Lena eines Tages ihre Haupterbin sein würde. Doch sie war trotzdem ein guter Mensch, sie konnte mit dieser Last einfach nicht mehr leben.«
»Was war in dem Sekt?«, fragte Lilian ungerührt, die an ihre eigene Willenlosigkeit vom Vorabend dachte. Inzwischen hatte sie sich an den Druck an ihrer Schläfe fast schon gewöhnt.
»Ein Schlafmittel. Je nach Dosierung wirkt es sedierend oder sofort betäubend. Ich musste es Lena besorgen. Sie hatte zuviel Angst, sie würde es sonst nicht schaffen. Zuerst wollte ich sie von diesem Plan abbringen, aber dann appellierte sie an meine Gefühle. Sie wusste ja, dass ich sie mag und ihr nicht einmal so etwas Grauenvolles abschlagen würde.«
Die Waffe an Lilians Kopf fing zu zittern an, doch nur einen Moment lang.
»Ich musste das für sie tun«, sagte Julian dann mit fester Stimme.
»Ich wette, das Zeug haben Sie Ihrem Obermieter geklaut. Dem Apotheker in der Südsee«, stieß Lilian hervor. »Wie lang wohnt er schon über Ihnen?«
»Seit acht Jahren. Ich habe den Schlüssel zu seiner Wohnung. Ich muss mich immer um die Blumen kümmern, wenn er wegfährt.«
»Das ist Beihilfe zu einem Verbrechen«, sagte Cedric tonlos. »Auch Selbstmord zählt zu dieser Gattung.«
Lilian sah das anders. Das war kaltblütiger Mord – wenn ihr nicht ziemlich bald etwas einfiel. Es war ihr klar, warum Julian diese bühnenreife Vorstellung inszenierte. Er musste sie so lange in Schach halten, bis jede Hilfe für Lena zu spät kam. Sie war die Einzige, die seine Behauptungen widerlegen konnte, auch wenn sie sich nicht mehr an alles erinnern könnte, und die Beweisführung schwierig werden würde. Natürlich gab es noch die Videoaufzeichnung, aber der Preis dafür – Lenas Leben – war zu hoch. Außerdem musste Lilian vorsichtig sein, denn das durfte Julian nicht erfahren. Sicher würde er den Film sofort zerstören, und sie und Cedric wären dann in noch größerer Gefahr.
Julian hatte sich nach allen Seiten abgesichert. Wenn er vorher, als Lilian geklingelt hatte, einfach geflohen wäre, hätte er sich dadurch belastet. Außerdem musste er damit rechnen, dass ihn jemand beim Betreten des Hauses beobachtet hatte. Natürlich würde er auch so nicht ungeschoren davonkommen. Aber es war ein großer Unterschied, ob er wegen Beihilfe zu einem Selbstmord oder wegen dreifachen Mordes belangt werden würde. Nur etwas hatte er nicht eingeplant, eine winzige Kleinigkeit. Und zwar nicht nur ihr unvorhergesehenes Erscheinen.
Lilians Gehirn arbeitete unablässig und fieberhaft. Sie hoffte, dass ihr Plan funktionierte. Er war gefährlich, und seine Ausführung würde sie nicht allein bewerkstelligen können. Aber blieb ihr eine Wahl? Jetzt konnte Cedric zeigen, was in ihm steckte. Hoffentlich würde er ihre Zeichen richtig deuten.
23
Lena sah aus wie ein Engel. Ihre weißen Gesichtszüge spiegelten einen Ausdruck von Zufriedenheit wider, den sie noch nie gezeigt hatten. Alle Scheu, alle Ängste waren daraus verschwunden. Wo immer sie jetzt war, es ging ihr gut.
»Wie lange wollen Sie uns hier festhalten?«, fing Lilian an.
Julian stand immer noch dicht neben ihr und starrte unverwandt zu Lena hinüber.
»So lange es nötig ist.«
»Dann sollten Sie sich auf mehr als auf ein paar Stunden einstellen.«
»Was soll das heißen?«
Lilian antwortete nicht. Ein Nadelstich musste vorerst genügen. Sie versuchte, Cedrics Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Das war schwierig, denn auch der stierte unentwegt auf Lenas bewegungslosen Körper.
»Wo waren Sie eigentlich gestern Vormittag, als mein Kollege Sie wegen Gisela angerufen hat?«
»Was? Ach, so. Spazieren.«
»Gehen Sie immer bei Regen spazieren?«
»Warum fragen Sie mich das?«
»Weil das mein Job ist.«
Pause.
»Wissen Sie, dass Lena gestern überfallen wurde, Cedric?«
Endlich wandte er seinen Kopf in ihre Richtung. Die Hoffnungslosigkeit in seinen Augen traf sie wie ein
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