Kaylee
steckte. Es war weg! Panisch durchsuchte ich die andere Hosentasche: Tante Vals Kreditkarte war verschwunden! Sie würde mich umbringen, wenn ich sie verloren hatte! „Wo sind meine Sachen?” Mir stiegen die Tränen in die Augen. „Ich hatte ein Handy und Lipgloss dabei, und zwanzig Dollar. Und die Kreditkarte meiner Tante!”
Angesichts der Tränen und meiner Angst schien Nancy doch ein wenig weich zu werden. „Wir behalten alle persönlichen Dinge ein, bis du entlassen wirst. Es ist alles da, bis auf die Kreditkarte. Die hat deine Tante letzte Nacht mitgenommen.”
„Tante Val war hier?” Ich wischte mir die Tränen aus den Augen, doch sie kehrten sofort zurück. Wenn sie hier gewesen war, warum hatte sie mich dann nicht mit nach Hause genommen?
„Sie ist im Krankenwagen mitgefahren.”
Krankenwagen. Ausgeladen. Weggesperrt. Die Wörter hallten in Endlosschleife durch meinen Kopf, Zeichen meiner Angst und Verwirrung. „Wie viel Uhr ist es?”
„Halb zwölf. In einer halben Stunde gibt es Mittagessen. Du kannst im Gemeinschaftsraum essen, den Gang runter und links. Frühstück gibt es um sieben. Abendessen um sechs.” Den Stift in der Hand, öffnete sie eine Tür, die mir bisher entgangen war. Dahinter kamen eine Toilette und eine Dusche zum Vorschein. „Du kannst jederzeit duschen, wenn du willst. Hol dir einfach im Schwesternzimmer dein Hygieneset ab.”
„Hygieneset?”, fragte ich verwundert. Das durfte ja wohl nicht wahr sein.
„Wir stellen Shampoo und Seife zur Verfügung. Rasieren kannst du dich aber nur unter Aufsicht.” Meinen irritierten Gesichtsausdruck schien sie gar nicht zu registrieren. „Um neun haben wir das Anti-Aggressions-Training, um elf eine Gruppensitzung zum Thema Depressionen und um vierzehn Uhr eine über die Symptome psychischer Störungen. Die eignet sich ganz gut für den Anfang.”
Sie lächelte geduldig, als erwarte sie ein Dankeschön für diesen Hinweis, doch ich starrte nur weiter auf das leere Regal. Das ging mich alles nichts an. Ich würde hier bald rauskommen, ganz sicher. Und die einzige Gruppe, die mich interessierte, waren meine Familienangehörigen.
„Die Jungs sind im Trakt gegenüber untergebracht, auf der anderen Seite des Gemeinschaftsbereichs. Mädchen dürfen sich dort nicht aufhalten, und dasselbe gilt umgekehrt. Besuchszeit ist immer abends zwischen sieben und neun. Nachtruhe um halb elf. Wenn du dich nicht in der Nähe der Schwesternstation aufhältst, wird alle Viertelstunde jemand nach dir sehen.” Sie machte eine Pause und sah mich ausdruckslos an. „Hast du noch Fragen?”
Mir kamen wieder die Tränen, doch diesmal kümmerte es mich nicht. „Warum bin ich hier?”
„Das musst du deinen Arzt fragen.” Sie warf einen kurzen Blick auf die Krankenakte. „Dr. Nelson. Er hat Montag bis Freitag nach dem Mittagessen Visite. Du wirst ihn also morgen kennenlernen.” Zögernd legte sie die Akte beiseite. „Was macht dein Hals? Du musstest nicht genäht werden, aber man hat die Wunden gesäubert …”
Wunden? Ich tastete mit der rechten Hand nach meinem Hals und zuckte zusammen. Die Haut fühlte sich wund an. Und irgendwie … rau. Aufgeregt rannte ich ins Bad und betrachtete mich in dem kleinen Aluspiegel über dem Waschbecken. Die Wimperntusche um meine Augen war verschmiert, mein Gesicht blass und die Haare zerzaust.
Ich reckte das Kinn. Erschrocken schnappte ich nach Luft, als ich meinen Hals sah. Er war über und über mit blutigen Kratzern übersät!
Und plötzlich fiel mir wieder ein, dass mir der Hals wehgetan hatte. Ich erinnerte mich an meine feuchten, klebrigen Finger.
Zitternd hob ich die Hand ans Licht. Meine Fingernägel waren dunkel und verkrustet. Blut! Ich hatte mir den Hals aufgekratzt, um dem Schrei ein Ende zu machen.
Kein Wunder, dass man mich für verrückt hielt.
Vielleicht stimmte es sogar.
4. KAPITEL
Obwohl es verboten war, schloss ich zum Duschen die Tür. Und als ich aus dem Bad kam, gleich noch einmal, weil sie nach besagter Routinekontrolle wieder offen stand.
Befürchteten die wirklich, ich könnte mich umbringen? Wenn ja, dann müsste ich schon ziemlich kreativ werden. Das Einzige, was nicht am Boden oder an der Wand festgeschraubt war, waren die Handtücher im Badezimmerregal und das winzige Stück Seife auf dem Waschbecken. Letztendlich hatte mein Stolz über die Eitelkeit gesiegt. Ich hatte mich komplett mit Handseife gewaschen, auch die Haare. Immer noch besser, als wildfremde Leute um eine
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