Kaylee
Patientinnen aufstand und an ihm vorbeilief, verlor das Mädchen das Interesse an mir, fast wie eine Katze, die ein Wollknäuel vorbeirollen sieht. Ihr Blick blieb an einem großen, kräftigen Mädchen hängen, das mit einem leeren Tablett in der Hand auf den Rollwagen zusteuerte.
„Wo ist deine Gabel, Mandy?” Judy, die Assistentin, war aufgestanden, um einen Blick auf das Tablett des Mädchens zu werfen. Sie wirkte angespannt, als rechne sie jeden Moment damit, dass Mandy sich vorbeugte und sie ansprang.
Mandy ließ das Tablett scheppernd auf den Wagen fallen, schob eine Hand in den Hosenbund ihrer Jeans und zog eine Gabel hervor. Jetzt verging mir endgültig der Appetit. Verächtlich grinsend warf Mandy die Gabel aufs Tablett und schlurfte auf Socken über den Flur in den Gemeinschaftsraum gegenüber.
Lydia ließ Mandy nicht aus den Augen, aber ihr Gesicht war verzerrt und sie presste sich eine Hand auf den Bauch.
Hastig zählte ich das Besteck auf Lydias Teller. Hatte sie etwa ein Messer verschluckt oder sonst einen Blödsinn angestellt, während Judy mit Miss Gabel-in-der-Hose beschäftigt gewesen war? Nein, das Besteck lag an seinem Platz, und ich konnte sonst keinen Grund für Lydias schmerzverzerrte Miene ausmachen.
Mir reichte es, das Ganze war einfach zu gruselig. Ich stellte das Tablett zurück – Besteckzählung inbegriffen – und lief schnurstracks zurück in mein Zimmer. Erst als die Tür hinter mir ins Schloss fiel, atmete ich erleichtert auf.
„Hallo?”
„Tante Val?” Ich wand mir die altmodische Telefonschnur um den Zeigefinger und drehte mich auf dem Plastikstuhl so weit wie möglich Richtung Wand. Mehr Privatsphäre war auf dem Flur nicht möglich.
Ein Königreich für ein Handy.
„Kaylee!”, zwitscherte meine Tante fröhlich, und auch ohne sie zu sehen, wusste ich, dass sie perfekt frisiert und geschminkt war, obwohl es Wochenende war und sie nicht aus dem Haus musste.
Es sei denn, sie wollte herkommen, um mich abzuholen. Oh bitte, lass sie mich holen kommen …
„Wie geht es dir, Schätzchen?” Trotz ihrer aufgesetzten Fröhlichkeit hörte ich, dass sie besorgt war.
„Gut. Mir geht es gut. Hol mich ab. Ich möchte nach Hause!”
Wie konntest du mich hierherbringen? Warum hast du mich alleine gelassen? Wenn es um ihre leibliche Tochter gegangen wäre, hätte Val sie nie hier gelassen. Egal, was Sophie getan hätte, Val wäre mit ihr nach Hause gefahren, hätte ihr einen Tee gekocht und das Problem ohne fremde Hilfe gelöst.
Aber das konnte ich nicht offen sagen. Meine Mutter war tot, und da mein Vater in Irland lebte, seit ich drei war, waren Tante Val und Onkel Brendon meine einzigen Verwandten hier. Ich konnte also nicht sagen, dass ich mich verraten fühlte, obwohl das Gefühl mich innerlich zerriss. Zumindest hätte ich es nicht sagen können, ohne in Tränen auszubrechen. Und wenn ich einen instabilen Eindruck machte, würden sie mich nur noch länger hier drin schmoren lassen. Und Tante Val würde meine Klamotten abliefern, ohne mich mitzunehmen.
„Ich war gerade auf dem Weg zu dir. Hast du schon mit dem Arzt gesprochen? Meinst du, ich kann mit ihm reden?”
„Ja, natürlich. Dazu ist er doch da, oder nicht?”
Schwester Nancy hatte mir gesagt, dass der Arzt am Wochenende keinen Dienst hatte, aber wenn Tante Val das erfuhr, würde sie vielleicht erst zu den offiziellen Besuchszeiten kommen. Arzt hin oder her, ich war mir sicher, dass sie mich nach Hause holen würde, wenn sie mich erst einmal zu Gesicht bekam. Wenn sie diesen Ort hier sah und erfuhr, und wie ich hausen musste. In unseren Adern floss vielleicht nicht dasselbe Blut, aber sie hatte mich immerhin großgezogen. Sie würde mich sicher kein zweites Mal im Stich lassen … oder?
Eine laute Männerstimme kündigte den Beginn der Aggressionstherapie an und lud explizit einen Patienten namens Brent zur Teilnahme ein. Ich lehnte die Stirn an die kühle Steinwand, schloss die Augen und versuchte, alles auszublenden. Doch das war unmöglich – sobald ich die Augen aufmachte oder den Desinfektionsgeruch einatmete, wusste ich, wo ich mich befand. Und dass ich hier nicht wegkonnte.
„In Ordnung. Ich bringe dir ein paar Sachen vorbei”, sagte Tante Val sanft.
Wie bitte? Ich hätte am liebsten losgeheult. „Nein, Tante Val, ich brauche keine Sachen. Ich will hier weg!”
Tante Val klang beinahe so frustriert, wie ich mich fühlte. „Ich weiß, aber das hat dein Arzt zu entscheiden, und wenn er … erst
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