Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Titel: Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
Vom Netzwerk:
schnell damit ausgesöhnt, ein neues Leben, das er für ein glückliches erachtete, zu führen, und so wollte er seinen Umzug nach der Rue Chanoinesse beschleunigen; dennoch konnte er sich der Vorsicht oder, wenn man will, des Mißtrauens nicht ganz entschlagen. Zwei Tage vor seinem Umzug begab er sich wieder zu Herrn Mongenod, um noch einige Erkundigungen über das Haus, in dem er seinen Aufenthalt nehmen wollte, einzuziehen. Während der kurzen Augenblicke, die er in seiner künftigen Wohnung verweilt hatte, um die Umgestaltungen nachzuprüfen, hatte er ein Kommen und Gehen mehrerer Personen beobachtet, deren Wesen und Haltung, wenn auch nicht etwas Geheimnisvolles, so doch die Ausübung irgendeines Berufes, irgendeiner heimlichen Tätigkeit der Hausbewohner vermuten ließ. Es war zu dieser Zeit viel die Rede von Versuchen der älteren Linie des Hauses Bourbon, wieder auf den Thron zu gelangen, und Gottfried glaubte an irgendeine Verschwörung. Als er in dem Arbeitszimmer des Bankiers und unter dessen forschendem Blick seine Fragen stellte, schämte er sich seiner selbst, da er ein sardonisches Lächeln die Lippen Friedrich Mongenods umspielen sah.
    »Frau Baronin de la Chanterie«, antwortete dieser, »ist eine der unbekanntesten, aber zugleich eine der ehrenhaftesten Persönlichkeiten von Paris. Haben sie einen bestimmten Grund, um sich bei mir über sie zu erkundigen?«
    Gottfried beschränkte sich auf eine banale Antwort: Er solle für lange Zeit mit Fremden zusammenleben, man müsse doch wissen, mit wem man in so enge Verbindung trete, usw. Aber das Lächeln des Bankiers wurde immer ironischer, und Gottfried, der mehr und mehr in Verlegenheit geriet, schämte sich seines Schrittes, der von keinerlei Erfolg begleitet war, denn er wagte keine Fragen mehr zu stellen, weder in bezug auf Frau de la Chanterie noch auf ihre Hausgenossen.
    Zwei Tage danach, an einem Montagabend, nachdem er zum letztenmal im Cafe Anglais gespeist und die beiden ersten Stücke im Théâtre des Variétés gesehen hatte, erschien er um zehn Uhr in der Rue Chanoinesse und wurde von Manon in seine Wohnung geführt. Die Einsamkeit hat Reize, die mit denen des Lebens in der Wildnis verglichen werden können, die jeder Europäer, der einmal dort weilte, empfunden hat. Das mag seltsam erscheinen in einer Zeit, wo jeder so sehr für den andern lebt, daß sich einer über den andern den Kopf zerbricht und ein Privatleben bald nicht mehr existieren wird, so keck und so wißbegierig dringen die Augen der Zeitung, dieses modernen Argus, in es ein; trotzdem wird diese Ansicht durch die Autorität der ersten sechs Jahrhunderte des Christentums gestützt, in denen kein Einsiedler in das gesellige Leben zurückkehrte. Es gibt wenige Seelenwunden, die die Einsamkeit nicht zu heilen vermag. So wurde auch Gottfried zuerst von der tiefen Ruhe und der vollkommenen Stille seiner neuen Wohnung gefangen genommen, ganz wie ein müder Reisender sich in einem Bade ausruht.
    Am Tage, nachdem er sich bei Frau de la Chanterie in Pension gegeben hatte, sah er sich zu einer Selbstprüfung genötigt, da er sich von allem Bisherigen getrennt fühlte, selbst von Paris, obwohl er sich noch im Schatten der Kathedrale befand. Aller weltlichen Eitelkeiten beraubt, sollte er für sein Handeln keine andern Zeugen mehr haben als sein Gewissen und die Hausgenossen der Frau de la Chanterie. Das hieß, die breite Straße des Weltlebens verlassen und einen unbekannten Weg betreten; aber wohin würde ihn dieser Weg führen? Was für eine Tätigkeit sollte er aufnehmen?
    Seit zwei Stunden hatte er sich diesen Überlegungen hingegeben, als Manon, die einzige Dienerin des Hauses, an seine Tür klopfte und ihm sagte, daß das zweite Frühstück aufgetragen sei und man ihn erwarte. Es schlug zwölf Uhr. Der neue Pensionär ging sofort hinab, voll Verlangen, die fünf Personen, unter denen sich von jetzt ab sein Leben abspielen sollte, näher kennenzulernen. Als er den Salon betrat, fand er dort alle Bewohner des Hauses stehend und ebenso gekleidet vor, wie an dem Tage, als er hier seine ersten Erkundigungen eingezogen hatte.
    »Haben Sie gut geschlafen?« fragte ihn Frau de la Chanterie.
    »Ich bin erst um zehn Uhr aufgewacht«, antwortete Gottfried und verbeugte sich vor den vier Hausgenossen, die alle seinen Gruß ernst erwiderten.
    »Das haben wir uns gedacht«, sagte lächelnd der Alte, der den Namen Alain trug.
    »Manon hat mich zum zweiten Frühstück gerufen,« fuhr Gottfried fort,

Weitere Kostenlose Bücher