Kein Erbarmen
Vorspiel
Er ist nackt, er friert, er blutet. Er keucht mit weit geöffnetem Mund, seine Zunge fühlt sich an wie ein pelziger Klumpen. Der Juckreiz unter der Augenbinde ist unerträglich. Seine Arme sind auf den Rücken gefesselt, die Kabelbinder schneiden tief in die Haut der Handgelenke. Es riecht nach Schweiß und Urin. Nach seinem eigenen Erbrochenen.
Er weiß nicht mehr, wie viel Zeit inzwischen vergangen ist, wie lange er schon auf den Knien über den Zementboden rutscht. Raum und Zeit haben jede Bedeutung verloren. Er ist wie ein Anfänger in eine Falle getappt und niedergeschlagen worden, als er wieder zu sich kommt, ist er bereits gefesselt. Zu Anfang versucht er noch, irgendetwas zu begreifen. Er glaubt, dass seine Peiniger zu zweit sind, aber er ist sich nicht sicher. Wenigstens einer von ihnen hat getrunken, als er ihm irgendeine Schweinerei ins Ohr flüstert, ist da eine deutliche Alkoholfahne. Die Stimme klingt nach einem Mann. Oder nach einer Frau, die genau das will: Dass er glaubt, sie wäre ein Mann.
Aber jede Frage, die er zu stellen versucht, wird mit einem harten Schlag ins Gesicht beantwortet, bis er es verstanden hat und die Fragen nicht mehr ausspricht, die jeden anderen Gedanken blockieren: Warum? Warum er? Was wollen sie von ihm? Was kann er tun, damit sie aufhören, ihn zu quälen?
Als ihn ein Stiefeltritt zu Boden wirft, als der nächste Tritt ihm eine Rippe bricht und er sich hilflos wimmernd in seinereigenen Kotze wälzt, als ihm das Stachelhalsband unerbittlich die Luft abschnürt, als ihm dann der Leuchtstab in den After gerammt wird, da begreift er plötzlich mit erschreckender Klarheit, dass alles, was mit ihm geschieht, sich wie ein Puzzlespiel zusammenfügt. Und dass es kein Erbarmen für ihn geben wird, kein plötzliches Erwachen aus einem bösen Traum, dass niemand ihn erlösen wird.
Jetzt will er nur noch, dass endlich die dumpfe Stimme verstummt, die ihn ohne Pause zwingt, immer wieder die gleichen Befehle auszuführen: Sitz! Platz! Bleib! – Komm! In einer neuen Welle von Panik spürt er deutlich, wie die Hand, die ihn eben noch zur Bestrafung in seine Pissepfütze gedrückt und gleich darauf wieder zur Belohnung mit Fleischresten gefüttert hat, sich um seinen Hodensack schließt. Er schreit vor Angst und Schmerz, sein Herz rast, der Schweiß rinnt in Strömen über seinen Körper. Gleichzeitig ist ihm kalt, er zittert, die Zähne schlagen aufeinander, sein Kopf fühlt sich an, als würde er explodieren, plötzlich hat er Durst – und weiß im selben Moment nur zu genau, was das bedeutet! Er macht noch einen letzten verzweifelten Versuch, etwas zu sagen, aber es ist zu spät. Ihm wird schwarz vor Augen, er spürt schon nicht mehr, wie er mit dem Gesicht auf dem Boden aufschlägt.
1
Eine kaputte Neonröhre flackerte grelle Lichtblitze. Es war kalt im Raum. Tabori zog unwillkürlich die Schultern hoch und schob die Hände in die Taschen seiner Lederjacke. Gleichzeitig verfluchte er die hirnrissige Idee, ausgerechnet die Segeltuchturnschuhe angezogen zu haben, durch deren dünne Sohlen ihm jetzt die Kälte des Fliesenbodens die Beine hochkroch. Tabori fühlte eine leichte Übelkeit, der Geruch nach Formaldehyd, Bleichstoffen und Desinfektionsmitteln erwischte ihn jedes Mal aufs Neue. Hinzu kam die ohnehin beklemmende Atmosphäre im Obduktionssaal, jeder Schritt, den er machte, jede Bewegung hallte von den weißen Kacheln der Wände zurück, es gab nichts, was den Eindruck von steriler Leere gebrochen hätte, es fehlte jeder Hinweis auf irgendetwas Persönliches, ganz bewusst schien sogar jede Farbe aus dem Raum verbannt.
Auf zwei Tischen lagen Leichen, die hintere noch mit einem Tuch abgedeckt, die vordere vollständig entblößt, ein gut trainierter Männerkörper mit einer Tätowierung auf dem linken Oberarm, ein einziges Wort nur in gotischen Lettern: RESPEKT. Brust und Bauch fleckig von Hämatomen, über der Niere tiefe Hautabschürfungen, die Vorhaut des Penis gerissen, die Schamhaare von getrocknetem Blut und Sperma verkrustet. Hämatome auch auf den Schienbeinen, beide Knie stark geschwollen, Hautabschürfungen an den Handgelenken. Brandwunden unter den Fußsohlen, wahrscheinlichvon ausgedrückten Zigarettenkippen. Nur das Gesicht wirkte seltsam unberührt, trotz des zugeschwollenen linken Auges und der Platzwunde direkt darüber. Das rechte Auge war starr zur Decke gerichtet und blutunterlaufen. Der ganze Körper dünstete einen vagen Geruch nach Alkohol
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