Kein Erbarmen
während er Güngör und Janin zunickte, die inzwischen seine Stimme gehört hatten und zu ihm herüberblickten. »Ich kann jetzt schlecht, hab eine gute Nacht. Knuddel die Hunde!«
»Sag Markus einen Gruß von mir, ja?
»Warum rufst du ihn nicht selber an? Er sitzt drinnen am Tisch …«
»Zu kompliziert. Pass auf dich auf!«
»Du auch.«
Tabori schob das Handy zurück in die Tasche. Güngör und Janin kamen auf ihn zu.
»Ich muss ganz kurz noch mal mit Lepcke reden«, sagte Tabori. »Aber wir sehen uns zum Essen, ja? Ich lad euch ein, es gibt frische Scholle hier und … Wir sehen uns, okay?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, stieg er die Stufen zum Restaurant hinauf. Das Letzte, was er eigentlich wollte, war jetzt ausgerechnet ein Abend mit Güngör und Janin. Er wusste nicht, warum er sie eben überhaupt eingeladen hatte. Vielleicht war es sein schlechtes Gewissen, das unklare Gefühl, dass er irgendwie schuld an dem war, was passiert war. Plötzlich hatte Tabori Lust, sich sinnlos zu besaufen. Was der Polizeipräsident konnte, konnten er und Lepcke schon lange, mit dem einzigen Unterschied, dass sie danach keine weiteren Konsequenzen zu befürchten hatten als wahrscheinlich einen dicken Kopf.
Als er an ihren Tisch zurückkam, hielt Lepcke sein Handy in der Hand.
»Ich versuche die ganze Zeit, Lisa zu erreichen, aber es ist ständig besetzt.«
»Versuch es noch mal«, sagte Tabori. »Sie wartet darauf, dass du anrufst.«
Lepcke warf ihm einen irritierten Blick zu, aber dann drückte er die Taste für die Wiederwahl.
Elsbet kam und wollte wissen, ob sie einen Tisch zum Abendessen reservieren wollten. Während Taboris Telefonat mit Lisa hatte sich das Restaurant fast gänzlich gefüllt.
»Vier Personen«, nickte Tabori. »Und irgendeinen Rotwein, von dem du noch genug Flaschen auf Lager hast.«
Die nächsten Gäste kamen zur Tür herein. Eine weitere Gruppe von Dänen, die sich lautstark unterhielten und dann zwei Tische zusammenschoben, weil sie augenscheinlich noch mehr Leute erwarteten.
Lepcke hatte das Handy am Ohr, das andere Ohr versuchte er mit der Hand gegen den dänischen Wortschwall hinter ihm abzuschirmen.
Tabori stieg in sein Zimmer hinauf, um zu duschen und sich die Zähne zu putzen. Sein Gesicht im Spiegel wirkte grau. Er schnitt sich unwillig eine Grimasse.
Sie haben Heinisch also eine Falle gestellt, dachte er. Ich habe ihn falsch eingeschätzt. Aber jetzt ist er weg vom Fenster, alles wird so weitergehen wie bisher. Und du, Tabori, was wirst du machen? Dich wieder in dein Schlupfloch verkriechen und vorgeben, dass dich das alles nichts angeht? Dich alle paar Wochen mal mit Lepcke in der Kneipe treffen und nicht wissen, wozu eigentlich?
Ich drehe mich im Kreis, dachte er, vielleicht war der eigentliche Fehler gewesen zu glauben, dass es funktionieren könnte, wenn ich mich wie Robinson Crusoe auf einer einsamen Insel verstecke und der Welt den Rücken zukehre. Aber es funktioniert nicht. Es hat bei Crusoe nicht funktioniert und bei mir sieht es nicht anders aus. Vielleicht hat Lepcke recht, vielleicht sollte ich wirklich überlegen, ob ich nicht doch wieder …
Das Handy riss ihn aus seinen Gedanken. Noch bevor er das Gespräch annahm, wusste er, dass es Lepckes Schwester sein würde. Inga. Vielleicht ist alles gar nicht so kompliziert, dachte er jetzt. Als er noch mal in den Spiegel blickte, war er selber überrascht über das breite Grinsen, das ihm entgegensah.Der Druck in seinem Magen war einem deutlichen Hungergefühl gewichen. Tabori nahm das Handy ans Ohr: »Tabori …«
Die Sonne fing an, den Himmel über dem Horizont rot zu färben. Es würde einer dieser typischen und scheinbar endlosen Sonnenuntergänge werden, die es nur über dem Meer gab, die aber oft genug auch einen Wetterwechsel ankündigten. Vielleicht regnete es morgen schon. Bald würden auch die ersten Herbststürme über die Küste ziehen, dann würde die Gischt bis hinauf zum Hotel geweht werden. Es musste schön sein, dann hier oben ein paar Tage zu verbringen, das war etwas, was er noch nie gemacht hatte, vielleicht sollte er Inga einfach fragen, ob sie mitkommen würde.
Ende
Nachtrag
Was wir geschrieben haben, ist niemals so passiert – aber es könnte genau so oder zumindest so ähnlich passiert sein: Die Übergänge zwischen dem, was nie geschehen ist, und dem, was denkbar gewesen wäre, sind fließend.
Wir haben uns beim Schreiben aller Freiheiten bedient, die in der Welt der Fiktion möglich
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