Kein ganzes Leben lang (German Edition)
aber ernst angesehen. Adrenalin war durch ihren abgekämpften Körper geschossen. Alles in ihr hatte nach Christiano geschrien.
Annas Wut schlug in Hass um. Ihr Blick fiel auf den Messerblock. Ihr Atem beruhigte sich. Ihr Verstand wurde klar. Der Hass loderte in ihrem Herzen. Der Hass war kalt.
Erschöpft hatte sie im Beobachtungszimmer gelegen mit drei anderen Frauen, die gerade entbunden hatten. Alle hielten sie ihre Babys im Arm. Alle wurden von ihren Partnern liebevoll umsorgt, bis auf sie.
„Schwester“, hatte sie matt gefragt, „ist mein Mann da?“
„Nein, es tut mir leid. Wir können ihn nicht erreichen.“ Ihr mitleidiger Blick war erniedrigend gewesen.
Das Messer blitzte kalt im fahlen Schein des Mondes, der durch die Gardinen fiel. Christiano atmete regelmäßig. Der Wind stieß das angelehnte Fenster auf, blähte den Vorhang auf.
Sie sah Christiano vor sich, wie er ihre Hand drückte. „Natürlich bin ich bei der Geburt dabei. Ich weiß doch, wie viel Angst du hast.“
In ihren Ohren rauschte es. Eine Wolke schob sich vor den Mond. Sie hob das Messer.
„Endlich zeigst du mal wieder Charakter“, ertönte eine Stimme neben ihr. Sie fuhr zusammen.
Neben ihr stand ihre Großmutter Helene und lächelte sie vergnügt an.
„Rache ist süß. Du solltest sie dir auf der Zunge zergehen lassen.“
Anna ließ das Messer fallen.
Sie beobachtete, wie ihre Großmutter eine Flasche Grappa nahm und ein Glas füllte. Helene trug einen fuchsiafarbenen Kimono, der sich mit ihren rot gefärbten Haaren stach. Bis zu Großvater Heiners Tod war sie eine farblose Frau im Schatten ihres Mannes gewesen. Mit ihren grauen Haaren, ihren dunklen Kostümen und ihrer zurückhaltenden Art verschmolz sie mit den Wänden des Hauses. Es war kaum zu glauben, dass es sich um dieselbe Frau handelte.
Helene stellte jetzt das Glas Grappa vor Anna auf den Küchentisch.
„Jetzt trinkst du erst einmal einen ordentlichen Schluck, und dann geht es dir gleich besser.“
„Ich stille“, protestierte Anna schwach.
„Trink!“, befahl Helene ihr.
Der Grappa brannte in Annas Kehle, dann breitete er sich warm und tröstend in ihrem Magen aus.
Helene steckte das Messer in den Block und stellte sich davor.
„Das ist grotesk.“ Anna schüttelte sich vor Lachen. Tränen liefen ihr die Wangen herunter.
Helene füllte ihr Glas wieder auf.
„Du bist hysterisch, Anna. Trink das.“
„Du gibst mir Befehle?“ Anna bog sich vor Lachen.
Ihre Großmutter haute mit der flachen Hand auf den Tisch. Sie zuckte zusammen.
„Trink das.“
Gehorsam trank Anna auch das zweite Glas leer. Ihr Lachen verebbte. Eine unendliche Müdigkeit breitete sich in ihr aus.
„Ich bin betrunken“, stellte sie fest, „jetzt werde ich statt meines Mannes, der es verdient hätte, mein Kind vergiften.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
„Mein Gott, Helene, ich hätte wirklich zugestochen“, flüsterte sie. Ihre Großmutter schlang die Arme um sie. Die vertraute Geborgenheit tröstete sie, erinnerte sie an ihre Kindheit.
„Ist ja gut, Liebes. Beruhige dich.“ Helenes sanfte Stimme bettete sie auf Watte. Sie war wieder das kleine Mädchen mit den blonden Zöpfen, dessen Puppe in der Elbe ertrunken war.
„Wie konnte er mir das antun?“, fragte Anna jetzt. Sie kuschelte sich noch enger an Helene.
„Es gibt sicherlich viele Gründe und doch keinen, der wirklich triftig ist. Aber darüber solltest du in diesem Augenblick nicht nachdenken.“
„Worüber dann? Dass ich ihn erstochen hätte?“ Anna wand sich aus Helenes Umarmung und sah sie an.
„Bist du nicht ein wenig geschockt?“
„Nein“, antwortete Helene und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: „Nur musst du dich schon geschickter anstellen, wenn du ihn aus dem Weg räumen willst. Du hast schließlich ein Kind. Was soll mit Laura passieren, wenn du hinter schwedische Gardinen wanderst?“
Anna sah ihre Großmutter spöttisch an.
„Seit wann bist du denn Spezialistin in weiblichen Racheakten?“
„Seit ich deinen Großvater umgebracht habe“, erwiderte Helene schlicht.
Anna verschluckte sich. Ein Hustenanfall schüttelte sie.
Schließlich brachte sie mühsam hervor: „Das ist ein Witz, oder?“
„Durchaus nicht.“
„Heiner ist an Herzversagen gestorben“, wandte Anna ein.
„Ausgelöst durch ein Gift, das ich in seinen Kakao gemischt habe“, Helene lächelte zärtlich.
„Er trank mit fünfundsiebzig immer noch heißen Kakao zum Frühstück. Kaum zu
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