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Kein ganzes Leben lang (German Edition)

Kein ganzes Leben lang (German Edition)

Titel: Kein ganzes Leben lang (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Benke
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gebrütet.
    „Heiner ist tot“, hatte Helene gesagt, ohne Begrüßung, ohne Tränen. Anna hatte dies nicht erstaunt. Aber deshalb gleich an Mord denken? Sie hatte sich keine großen Sorgen um Helene gemacht. Erst als Adele ein Jahr später verstarb, befürchtete sie, Helene würde vereinsamen.
    Doch sie blühte auf.
    Anna beugte sich über das Bettchen. Laura lachte freudig und strampelte. Sie drückte sie an sich. Für ihr Baby war es ein Morgen wie jeder andere. Was würde sie sagen, erführe sie, dass ihre Urgroßmutter ihren Urgroßvater ermordet hatte, ihre Mutter ihren Vater erstechen wollte? Oder dazu, dass ihr Vater sich während ihrer Geburt mit seiner Geliebten vergnügte? Anna trat wieder in den Flur. Die Stelle, wo die Aktentasche gestanden hatte, war leer. Der Schmerz traf sie unerwartet. Ihr Herz drohte zu zerbrechen. Sie ließ sich an der Wand entlang auf den Boden gleiten, fest ihr Baby im Arm. Sie drückte ihr Gesicht an den kleinen, warmen Körper und weinte leise. Laura war ganz still.
     
    Später saß sie in der Küche. Shaban, ihre Haushälterin, nahm ihr die kalte Tasse Kaffee aus der Hand und reichte ihr eine warme. Anna nippte an dem Kaffee und beobachtete sie abwesend, während sie Möhren schälte und sang. Sie kam ursprünglich aus Mauritius. Ihr Mann war Pförtner in dem Palazzo, in dem sie lebten. Dadurch hatte die Familie eine kleine Wohnung in dem Haus erhalten, eine Wohnung, die sie sich sonst nie hätte leisten können. Ihr Leben war einfach, aber echt. Davon war in Annas Leben nicht mehr viel übrig. Ihr Blick fiel auf ihr Kind. Es saß in seiner Wippe und schaute sie aus den großen, blauen Augen an, die es von ihr hatte. Die letzte Nacht kam ihr wie ein böser Traum vor. Wie hatte er das nur tun können? Er hatte alles verraten, was ihnen lieb und teuer gewesen war. Ihre Liebe, ihr Baby, ihre Vertrautheit. Vielleicht war es das Letzte, das ihr am meisten zusetzte.
    „Wir gegen den Rest der Welt“, hatte er immer gesagt, wenn es brenzlig wurde. Sie hatte es geglaubt.
    Er hatte eine andere in diesen exklusiven Kreis ihrer Lebensgemeinschaft gelassen und damit ihre tiefe Verbundenheit zerstört. Die heilende Wut stieg in ihr auf, die Lust zu verletzen. Empfindungen, die ihr neu waren. Sie war eigentlich ein friedfertiger Mensch. Ihr Blick fiel auf den Messerblock. Sie hätte zustechen sollen, dachte Anna böse. Er hatte es nicht anders verdient. Der Gedanke, es später noch nachholen zu können, beruhigte sie.
    Müde lief Christiano durch die Eingangshalle. Er nahm nicht mehr die hübschen alten Kacheln wahr, die die Wände des Rundbogens schmückten, ebenso wenig die geschwungene schmiedeeiserne Laterne. Er war hier aufgewachsen und betrachtete den Palazzo mit den Augen der Gewohnheit. Langsam stieg er die Treppen zum Aufzug hinauf. Im Aufzug strich er sich die Haare aus dem Gesicht und lockerte seine Krawatte. Dann schloss er die Türen des alten Paternosters und kramte sein Blackberry aus der Anzugtasche. Acht neue E-Mails, seit er das Büro verlassen hatte. Er würde sie später lesen. Später, wenn Anna im Bett lag, später, wenn er friedlich auf der Couch saß, später, wenn es endlich still war. Er sah auf die Uhr, kurz nach zehn. Gegen elf Uhr fütterte Anna das Baby. Wenn er Glück hatte, ließ sie ihn Laura für einen Moment halten – der kostbarste Moment des Tages. Vorfreude erfüllte ihn. Er trat aus dem Aufzug und stutzte. Vor der Wohnungstür stand ein Koffer. Anna musste ihn hier draußen vergessen haben. Seit der Schwangerschaft war sie so durcheinander. Er war froh, wenn sie sich an seinen Namen erinnerte. Aber wozu hatte sie diesen Koffer gebraucht? Er schob den Koffer mit den Füßen zur Seite und steckte den Hausschlüssel ins Loch, erfolglos. Stirnrunzelnd versuchte er es aufs Neue. Der Schlüssel passte nicht. Er schellte. Nichts passierte.
    „Avvocato, ist alles in Ordnung?“, vernahm er die Stimme der Nachbarin hinter ihm.
    Die alte Schachtel hatte nichts Besseres zu tun, als hinter dem Türspion zu sitzen und in den Flur zu starren, dachte er ungehalten. Unwillig drehte er sich um.
    „Ja, Signora, alles in Ordnung. Schönen Abend.“ Letzteres sagte er bestimmt.
    „Ihre Frau hat heute das Türschloss auswechseln lassen. Wussten Sie das nicht?“ Die Nachbarin war in den Hausflur getreten und sah ihn aufmerksam an. Sie war wie immer herausgeputzt. Zur schwarzen, weiten Hose trug sie eine cremefarbene Chiffonbluse, um den Hals mehrere Perlenketten.

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