Kein Opfer ist vergessen
Geist eines Jungen, der zusehen musste, wie sein Zwillingsbruder ermordet wurde. Und sich fragte, warum er nicht an dessen Stelle war. Dann trat Sarah aus der Dunkelheit hervor – und rettete mich.
NEUNUNDVIERZIG
Sie stand da und umschlang ihren Oberkörper, als müsse sie sich zusammenhalten.
»Sarah«, sagte ich. »Verschwinde.«
»Wenn du das machst, musst du es tun, während ich zusehe.«
»Glaubst du, das hindert mich daran?«
»Ich war heute Abend auch da, Ian. Im Schwulenviertel.«
Meine Hand rutschte von der Kurbel. Das Seil gab ein Stück nach. »Was wolltest du da?«
»Jake dachte, wir hätten alles unter Kontrolle. Das dachte ich auch. Anscheinend haben wir uns geirrt.«
»Den Eindruck habe ich auch. Fahr nach Hause, Sarah.« Ich griff wieder nach der Kurbel.
»Jake geht es gut«, sagte sie. »Falls du dich das fragst.«
»Es war nur ein Betäubungsmittel. Ich würde ihm nie schaden.«
»Natürlich nicht.« Sarah trat auf mich zu. Ich spürte ihre Nähe.
»Woher wusstest du, dass ich hier bin.«
Ihr Blick wanderte über den Tisch und die Seilwinde. »Ich weiß mehr, als du denkst.« Sie hielt einen gelben Briefumschlag in der Hand.
»Was ist in dem Umschlag?«
»Röntgenaufnahmen. Von Matthew.«
Meine Kehle schnürte sich zu.
»Es war Jakes Idee«, fuhr sie fort. »Er hat sich die alte Schulakte deines Bruders besorgt. Die führte uns zu den Krankenhausakten. Mal war es ein gebrochenes Handgelenk. Dann drei gebrochene Rippen. Oder ein angeknackstes Sternum. Vor zwei Tagen hat Detective Rodriguez einen Gerichtsbeschluss erwirkt. Die Leiche deines Bruders wird exhumiert.«
Ich sank zu Boden, lehnte mich an die Wand und spürte die kalten Ziegelsteine im Rücken. Sarahs Stimme durchdrang die dunklen Schleier der Zeit und der Erinnerung.
»Matthews Körper war aufgedunsen, als er aus dem See gezogen wurde. Kein Mensch kam auf den Gedanken, seine Beine genauer zu untersuchen. Warum auch, wenn jeder davon ausging, dass er ertrunken war.«
Ich langte nach dem Briefumschlag, nahm die Röntgenbilder heraus und legte sie auf meinen Schoß. Im Geist sah ich gesplitterte Knochen. Das Weiße in Matthews Augen. Hörte hohe, dünne Schreie.
»Ich weiß noch, wie das erste Bein brach«, sagte ich. »Mein Stiefvater tat so, als hätte er sein Lieblingsspielzeug kaputt gemacht. Und da er es nicht mehr kitten konnte, brach er auch das andere Bein.« Ich schnipste mit den Fingern. »Einfach so.«
»Er hatte ein kleines Boot am See liegen. Schlug Matthew in einen Teppichläufer ein und schaffte ihn ins Boot. Auf dem See warf er ihn über Bord und sah zu, wie er ertrank.« Ich steckte die Röntgenaufnahmen zurück, stand auf und legte den Umschlag auf den Tisch. »Weißt du, was ich heute Abend getan habe? Ich habe ihn gejagt. Bevor er noch jemanden tötet.«
Sie war jetzt so nah, dass ich den Duft ihrer Haut wahrnahm und ihren Atem spürte. Ich holte den Brief meiner Mutter aus der Tasche und legte ihn auf den Umschlag mit den Röntgenbildern. »Den Brief hat meine Mutter mir hinterlassen.«
Sarah nahm den Brief und begann, ihn zu lesen. Ich sprach weiter.
»Sie wollte, dass ich erfuhr, wann Cooper aus dem Gefängnis entlassen wird. Ich solle etwas unternehmen, hat sie geschrieben. Sie habe es nicht geschafft, ihre Kinder vor ihm zu schützen, aber jetzt sei es an mir.«
Sarah schaute auf.
»Sie hat über Skylar und die anderen geschrieben. Und mich auf das Loch hier im Kellerboden hingewiesen, wo Cooper seine Trophäen aufbewahrt hat. Ringe, Geldbeutel, Haarsträhnen. Den Fetzen von Skylars Hemd.«
»Also hast du Jake den Brief unter die Tür geschoben.«
»Ich wusste, dass ich über das Seminar Zugang zu den Akten bekomme, und dachte, wenn ich euer Interesse an dem Fall wecken kann, stoßen wir vielleicht auf eine Spur oder finden sonst etwas, das mich zu ihm führt.«
»Stattdessen sind wir auf das Trefferkommando gestoßen.«
»Ich wollte nie, dass dir wehgetan wird, Sarah. Weder dir noch Jake.«
Sie faltete den Brief zusammen und steckte ihn in den Umschlag zurück. »Und was ist mit dem heutigen Abend?«
»Was soll damit sein?«
»Was hast du vor?«
Ich holte tief Luft und betrachtete den Mann, den ich an den Tisch gefesselt hatte. »Meine Mutter kannte ihren Sohn.«
»Was soll das heißen?«
»Das heißt, dass ich ihn töten wollte. Ich wollte den Weg zu Ende gehen.«
»Das wäre falsch gewesen, Ian.«
»Du weißt nicht das, was ich weiß. Du hörst auch nicht das, was ich
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