Kein Opfer ist vergessen
schienen die Erklärung zu schlucken. Nach den Ereignissen auf dem Boot hatten weder Jake noch ich etwas von Sarah gehört. Sie hatte die Uni verlassen, und die E-Mails, die wir ihr schickten, kamen mit dem Vermerk »Empfänger unbekannt« zurück. Ich litt nach allen Regeln der Kunst oder wenigstens so, wie ich sie verstand, aber vielleicht sollte es im Moment so sein und es nur Jake und mich geben. Schließlich kannte niemand außer uns die ganze Geschichte. Zumindest nicht so wie Jake und ich. Oder sagen wir mal, wir kannten sie so in etwa.
Wir saßen in meinem Wagen an der Ecke Roscoe und Halsted und hielten an einer roten Ampel. Es war einer der letzten warmen Sommertage, im Schwulenviertel Chicagos herrschte reges Leben. Männergruppen zogen vor uns über die Straße, gefolgt von noch größeren Frauengruppen. Die Leute saßen draußen vor den Kneipen und standen an jeder Straßenecke. Weiter vor uns hielt ein Wagen neben den geparkten Autos an, der Fahrer ließ das Seitenfenster herunter und brüllte etwas in einen Club namens Cocktail. Zwei Männer stürzten aus dem Laden, rissen die Wagentür auf und sprangen auf den Rücksitz. Unsere Ampel schaltete auf Grün, wir fuhren los. In einem Haus beugte sich ein Mann über einen Balkon und filmte uns mit seinem iPhone.
Ich fuhr auf den Parkplatz eines 7-Eleven. Nicht weit entfernt saß ein Cop in einem Streifenwagen, nippte an seinem Kaffeebecher und beobachtete die Welt im Seitenspiegel. Ich parkte direkt neben ihm. Der Cop setzte seinen Wagen zurück und verschwand. Jake sah mich an. Er war nicht glücklich.
»Jetzt mal im Ernst, Joyce. Was tun wir hier?«
»Das habe ich dir erklärt. Es hängt mit dem Fall Harrison zusammen.«
»Ja, aber du hast auch gesagt, wenn wir hier wären, würde alles einen Sinn ergeben.«
»Wird es auch.«
»Wann?«
»Geduld. Ich glaube, du brauchst erst mal einen Kaffee.«
Ich ging in den Laden und reichte Jake einen Becher. Jake kostete einen Schluck. »Hast du noch Zucker?«
Ich reichte ihm zwei Päckchen und sah zu, wie er sie mit dem Holzstäbchen in den Kaffee rührte. Vor einem Monat war er aus dem Krankenhaus entlassen worden. Dank der Schusswunde hatte er gut zehn Kilo abgenommen, und sein Gesicht wirkte immer noch blutleer. Aber seine Härte war noch ganz die alte, ebenso wie das Unnachgiebige, das ihm eigen war.
»Wie fühlst du dich?«, fragte ich.
Jake nahm einen Schluck Kaffee. »Besser und besser. Also, was machen wir jetzt?«
Ich warf einen Blick in den Rückspiegel. Dort war eine Bar namens Chasens zu sehen. Die Fenster zur Straße waren geöffnet, sämtliche Hocker an der Theke besetzt. Der nächste Streifenwagen tauchte auf und fuhr an uns vorüber. Keiner der Gäste im Chasens nahm von ihm Notiz.
»Ich weiß, wer Skylar Wingate umgebracht hat«, sagte ich leise und zögernd. »Vor ein paar Monaten ist der Mörder in mein Haus eingebrochen. Ich habe im Keller eine Videokamera installiert. Sie hat ihn drei Minuten lang aufgenommen.«
»Skylars Mörder ist in dein Haus eingebrochen?«
»Ja.«
»Und du hast ihn auf Band.«
»Ja.«
Jake drehte sich um und studierte meine Miene. »Das möchte ich mir sofort anschauen.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?« Jake stellte den Kaffeebecher in die Halterung am Armaturenbrett. Wenn mich nicht alles täuschte, hatte er den Kaffee schon zur Hälfte getrunken.
»Siehst du die Bar hinter uns?«
Er wandte sich um und nickte.
»Im vergangenen Monat habe ich die Gegend hier abgeklappert und das Foto dieses Mannes herumgezeigt. Letzte Woche hat ihn einer erkannt.«
»Etwa aus der Bar da hinten?«
»Ja. Dort war er an jedem der letzten drei Wochenenden. Auf der Suche nach seinem nächsten Opfer.«
»Aha. Und ich soll einfach glauben, dass er unser Mörder ist?«
»Er ist es.«
»Das ist alles?«
»Im Moment schon.«
»Weißt du eigentlich, was für ein Spinner du bist?«
Wir schwiegen und hörten dem Straßenlärm zu, der durch unsere geöffneten Seitenfenster drang.
Schließlich sagte Jake: »Haben die Cops das Band schon gesehen?«
»Ich dachte, zuerst sollten wir beide darüber sprechen.«
»Da hast du falsch gedacht. Ruf Rodriguez an.«
Ich nahm mein Handy aus der Jackentasche und legte es aufs Armaturenbrett. Jake betrachtete das Handy. »Du glaubst doch wohl nicht, ich rufe ihn an.«
»Entweder du oder keiner. Du hast die Wahl.«
»Du hast keine Kugel abgekriegt, Joyce. Meinst du, ich hab Lust auf eine zweite?«
»Deshalb hast du die
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