Kein Ort - Nirgends
Schwester in höchste Gefahr gebracht hätten.
Butzbach? sagt die Günderrode. Aber das kenn ich doch genau. Da hat doch meine Großmutter gelebt, da hab ich doch nach ihrem Tod ein halbes Jahr gewohnt! Kleist beschreibt ihr die Unfallstelle, sie kann Einzelheiten beibringen, die er in der Aufregung nicht bemerkt hat. Niemals vergessen aber wird er den skeptischen Gedanken, den er für seinen letzten hielt: So hängt ein Menschenleben an einem Eselsschrei?
Jetzt ist mir, als sei ich für Ihren Gedanken verantwortlich, bloß weil er Ihnen in Butzbach kam! ruft die Günderrode lachend.
Ja glauben Sie denn, sagt Kleist, wir könnten dem blinden Zufall, der unser Leben regiert, etwas Nennenswertes entgegensetzen!
Der Mann rührt sie an; ob er ihr gefällt, weiß sie nicht, aber auch Abneigung würde ihr Urteil über ihn nicht trüben: Das ist es ja, was sie ihre Kälte nennen, daß sie sich nicht ihren Vorurteilen überläßt. Übrigens will sie ihre Ansichten dem Herrn von Kleist nicht aufdrängen, der, gerade wenn er ernst und heftig wird, etwas Komisches an sich hat, inwiefern, könnte sie nicht sagen. Sie muß mit der Bettine darüber nachdenken, warum ihr so häufig junge Männer begegnen, denen sie sich überlegen fühlt.
Ihre Frage, Kleist, führt zu nichts außer zu Selbstquälerei. Der Esel schrie. Ihr Pferd ging durch – schön und gut. Ihr Selbstgefühl rebelliert gegen einen solchen Tod. Doch hätten Sie ihn zufällig nennen können? Wäre er nicht eine Folge aus Ereignissen gewesen, die Sie selbst herbeigeführt haben? Was hat Sie nach Butzbach getrieben? Was suchten Sie auf dieser Reise, die Sie auch hätten unterlassen können?
Sie sind sehr scharfsinnig, Günderrode. Jene Reise – sehr eigentümlich stand sie von Anfang an unter einem Doppelstern. Teils wollte ich sie, um mich zu zerstreuen, da mir durch die nähere Bekanntschaft mit der Kantischen Philosophie mein einziges, höchstes Ziel, mir Bildung und Wahrheit zu erwerben, als unerfüllbar versunken war; teils wurde sie mir aufgezwungen: Da meine Schwester auf ihre Teilnahme nicht verzichten wollte, benötigten wir andre Pässe, in die Ziel und Zweck der Unternehmung eingetragen wurden. Was sollte ich sagen? Da stand plötzlich ›Paris‹, und, zu meiner ungläubigen Verwunderung: ›Studium der Mathematik und Naturwissenschaften‹. Ich, der nichts vorhatte, als dem Wissen zu entfliehn! Schon war meine Brieftaschevoller Empfehlungsschreiben an Gelehrte in der französischen Hauptstadt. Ich glaubte zu träumen. Sollte ich reisen? Wollte ich es noch? Durfte ich noch davon Abstand nehmen? So wurde mein freier Entschluß mir unter der Hand verfälscht, ich konnte mich aus der Verstrickung nicht lösen, und mit den zwiespältigsten Gefühlen bestieg ich den Reisewagen.
So gesehn, setzt er in Gedanken hinzu, wäre jener Zwischenfall in Butzbach allerdings nichts weniger als ein unmotivierter Zufall gewesen. Nachträglich findet er fast Anerkennung für dieses Henkerspiel, das aus den allerverschiedensten Fäden – solchen, die es absichtslos, versehentlich aufnimmt, und den schicksalhaften, zwangsläufigen – einem Menschen den Strick zu drehen weiß.
Es heitert ihn auf, wenn er das Leben auf seinen Tricks ertappt.
Jetzt schweigt er wieder. Die Günderrode zweifelt, welche Gegenstände sie ihm gegenüber gesprächsweise berühren darf, welche nicht. Natürlich wird sie die Pfarrerstochter von Wiesbaden nicht erwähnen, von der sie den Wedekind maliziös hat flüstern hören. Dieser Kleist sieht nicht aus, als dürfe man ihm mit seinen Amouren schmeicheln. Das spricht eher für ihn. Sie, deren strenge Selbstkontrolle durch ihre Müdigkeit, durch Savignys Anwesenheit gelockert ist, erinnert sich zum Glück an eine Nebensächlichkeit, auf die sie aus dem ganzen beiläufigen Geschwätz über den Kleist aufmerksam wurde.
Ihr Fräulein Schwester, hör ich, sei eine unternehmende Dame?
In welchem Sinn.
Warum diese Gereiztheit wieder. Warum immer noch, und – er weiß es ja – bis an sein Lebensende, diese Verletzbarkeit durch die bloße Erwähnung seiner Familie. Wo ein Messer einmal tief ins Fleisch geschnitten hat, tut die Berührung durch eine Feder weh. Er kann nicht erzwingen, was allein den Schmerz lindern würde: Sie, bei denen er alles fand, was ein Herz binden kann – Liebe, Vertrauen, Schonung, Unterstützung mit Rat und Tat – auch seinerseits nach Gebühr zu lieben oder sich einzugestehn, daß es nicht möglich ist und sich so
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