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Kein Ort - Nirgends

Kein Ort - Nirgends

Titel: Kein Ort - Nirgends Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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dreht sich um: Ich habe heute nacht von Goethe geträumt, er sei gestorben. Da hab ich mir im Traum die Augen beinah blind geweint.
    Ein Tumult bricht los, als habe Clemens nicht von einem Traum, sondern von einem wirklichen Ereignis gesprochen. Kleist muß eine Regung von Eifersucht unterdrük- ken, als dürfe nur er von Goethe träumen – was übrigens niemals vorkommt. Es wundert ihn eigentlich.
    Die Günderrode, die sich weiter neben ihm hält, hat ebenwieder den ›Tasso‹ gelesen. ›Ich fühle mir das innerste Gebein zerschmettert, und ich leb, um es zu fühlen.‹
    Ja. Gewisse Verse hätte er wohl auch parat. Die Proportionen des Talents mit dem Leben, ein zeitgemäßes Thema. Und doch seien ihm Zweifel gekommen, ob es dem Autor gelungen sei, die letzte Konsequenz aus den Beziehungen seiner Figuren herauszutreiben.
    Was er meine.
    Gleich wird er der Frau bekennen, was er noch niemandem gesagt, er weiß auch, warum.
    Es kränkt mich, daß das Zerwürfnis des Tasso mit dem Hof auf einem Mißverständnis beruhn soll. Wie, wenn nicht Tasso dem Fürsten, besonders aber dem Antonio, Unrecht täte, sondern die ihm? Wenn sein Unglück nicht eingebildet, sondern wirklich und unausweichlich wäre? Wenn nicht Überspanntheit, sondern ein scharfes, gut: überscharfes Gespür für die wirklichen Verhältnisse ihm den Ausruf abpreßte: ›Wohin beweg ich meinen Schritt, dem Ekel zu entfliehn, der mich umsaust, dem Abgrund zu entgehn, der vor mir liegt?‹ – Sie lächeln, Günderrode?
    Sprechen Sie weiter.
    Der Geheime Rat, denk ich, hat keinen dringlichen Hang zur Tragödie, und ich glaube zu wissen, wieso. So sagen Sie es.
    Er ist auf Ausgleich bedacht. Er meint, die Widerkräfte, die in der Welt wirken, ließen sich teilen in zwei Zweige der Vernunft – er nennt sie Gut und Böse –, die letzten Endes beide zur Fortentwicklung der Menschheit beitragen müssen.
    Und Sie, Kleist?
    Ich? – Kleist sieht plötzlich, was ihn von jenem unterscheidet;was ihn immer unterlegen, den andern immer unanfechtbar machen wird.
    Ich kann in gut und böse die Welt nicht teilen; nicht in zwei Zweige der Vernunft, nicht in gesund und krank. Wenn ich die Welt teilen wollte, müßt ich die Axt an mich selber legen, mein Inneres spalten, dem angeekelten Publikum die beiden Hälften hinhalten, daß es Grund hat, die Nase zu rümpfen: Wo bleibt die Reinlichkeit. Ja, unrein ist, was ich vorzuweisen habe. Nicht zum Reinbeißen und Runterschlucken. Zum Weglaufen, Günderrode.
    Nach ein paar Schritten nimmt er einen dürren Stock und zeichnet mit raschem, schnellem Strich eine Figur in den Wegsand, etwas wie eine absurde geometrische Konstruktion, einen vertrackten Mechanismus. Dies sei nun, sagt er, sein Grundriß von einem Trauerspiel. Er wolle hören, was sie von diesem Unding halte, das, in Bewegung gebracht – und das sei ja seine Voraussetzung –, dazu verdammt sei, sich selber zu zerstören.
    Die Günderrode, die derartiges noch nie gesehn, auch nicht gedacht hat, versteht das Ding sofort.
    Nun? fragt Kleist. Seine Lippen zucken.
    Sie wissen es selbst, sagt die Frau. Dies ist kein Trauerspiel. Das ist das Verhängnis.
    Ein Satz, der den Fremden auf merkwürdige Weise zu befriedigen scheint. Sie gehn schweigend. Einmal nimmt Kleist höflich Karolinens Arm. Mäuerchen aus Naturstein, dahinter Apfelplantagen nach der Blüte, schmale Weingärten, eine Welt ohne falschen Ton. In Kopfhöhe an ihnen vorbei die Fenster, winzig. Rotblühende Geranien, blendendweiße gebauschte Gardinen, dahinter die dunklen Stuben mit ihren unauflösbaren Geheimnissen.Ab und an, wie schreckerfüllt, ein flaches fahles Gesicht, von einer Haube umrahmt.
    Der Geheime Rat, sagt Kleist, doch auch Herr Merten preisen mir die Vorzüge der neuen Zeit gegenüber denen der alten. Ich aber, Günderrode, ich und Sie, denk ich, wir leiden unter den Übeln der neuen.
    Aus den Höfen, aus Kellerluken das ganze Jahr über der Geruch von Gärung. Sie trinke selten Wein, sagt die Günderrode. Meist müsse sie den Genuß mit Kopfschmerz bezahlen. Sie bestätigt Kleist, daß die erwachsenen Leute um diese Zeit noch in den Weinbergen arbeiten. Nach den Spaziergängern blicken, ohne Erstaunen zu zeigen, nur Alte und Kinder. Das letzte Anwesen, eh die Uferwiesen beginnen, ist eine Tischlerei. Holz, weiß leuchtend, auf dem Hof gestapelt. Das einschneidende Geräusch einer Säge. Ihren Wunsch, Tischler zu werden, hab ich verstehen können, sagt die Günderrode. Mir würde es auch

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