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Kein Ort - Nirgends

Kein Ort - Nirgends

Titel: Kein Ort - Nirgends Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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dürfte, welche die Menschheit – dank der Entfaltung der Wissenschaften! – dann genießt.
    Diesem Denken liegt ein Fehler zugrunde, aber es istnoch zu früh, ihn zu benennen. Sie gehn nicht vom Zusammenhang der Dinge aus, sagt Kleist, sondern von einzelnen Disziplinen. Soll ich denn alle meine Fähigkeiten, alle meine Kräfte, dieses ganze Leben nur dazu anwenden, eine Insektengattung kennenzulernen oder einer Pflanze ihren Platz in der Reihe der Dinge anzuweisen? Muß die Menschheit durch diese Einöde, um ins Gelobte Land zu kommen? Ich kann’s nicht glauben. Ach, wie traurig ist diese zyklopische Einseitigkeit! Was schlagen Sie vor? – Savigny, auf dessen Stimme man gewartet hat. – Alle Laboratorien schließen? Die Fortentwicklung derjenigen Instrumente verbieten, die der weiteren Forschung dienen? Die Neugier, unsern edelsten Trieb, unterbinden?
    Savigny, sagt die Günderrode, Savigny hat für alles ein Entweder-Oder. Sie müssen wissen, Kleist, er hat einen männlichen Kopf. Er kennt nur eine Art Neugier: Die Neugier auf das, was unanfechtbar, folgerichtig und lösbar ist.
    Die Frau. Als habe sie eine Ahnung von dem entsetzlichen Widerspruch, auf dessen Grund das Verderben der Menschheit liegt. Und als brächte sie die Kraft auf, den Riß nicht zu leugnen, sondern zu ertragen.
    Aber der Dichter, ruft Merten, ist doch nicht dazu da, seinen Mitmenschen die Hoffnung zu nehmen!
    Bei Gott, Herr Merten, da haben Sie recht. Dem Dichter ist die Verwaltung unserer Illusionen unterstellt.
    Nun wird man ihn noch für ironisch halten. Worauf läuft alles hinaus. Der Mensch hat ein unwiderstehliches Bedürfnis, sich aufzuklären, da er ohne Aufklärung nicht viel mehr ist als ein Tier. Doch sobald wir in das Reich des Wissens treten, scheint ein böser Zauberdie Anwendung, die wir von unsern Kenntnissen machen, gegen uns zu kehren. Wir mögen also am Ende aufgeklärt oder unwissend sein, so haben wir dabei so viel gewonnen als verloren.
    Was meinen Sie?
    Kleist antwortet der Günderrode: Der Mensch wäre also, wie Ixion, verdammt, ein Rad auf einen Berg zu wälzen, das, halb erhoben, immer wieder in den Abgrund stürzt. Wie unbegreiflich der Wille, der über der Menschengattung waltet. Kann Gott von solchen Wesen Verantwortlichkeit fordern?
    Kleist, stark erregt durch das Gespräch – wie schnell sein Gleichmut zusammenbricht! –, sagt dem Hofrat, indem der sich mit beiden Fäusten gegen den Schädel hämmert: Ja, ja, ja! Mag sein, daß der Fehler hier drinnen steckt. Daß die Natur grausam genug war, mein Gehirn falsch anzulegen, so daß auf jedem Weg, den mein Geist einschlägt, der Aberwitz ihm entgegengrinst. Wedekind, wenn Sie ein Arzt wären: Öffnen Sie diesen Schädel! Sehen Sie nach, wo der Fehler sitzt. Nehmen Sie Ihr Skalpell und schneiden Sie, ohne zu zittern, die verkehrte Stelle heraus. Es mag ja wahr sein, was ich in den Gesichtern meiner Familie lese: daß ich ein verunglücktes Genie, eine Art Monstrum bin. Doktor, ich flehe Sie an: Operieren Sie das Unglück aus mir heraus. Sie werden keinen dankbareren Geheilten haben als mich.
    Mensch! hört die Günderrode Wedekind sagen, mit fremder Stimme. Was denken Sie!
    Darauf Kleist, ruhig, aber erschöpft: Was denkbar ist, soll gedacht werden. Ist das nicht auch Ihre Meinung, Herr Hofrat?
    Aus den Höfen die Geräusche einfacher Arbeiten. Axtschläge, Eimerscheppern. Hühner auf dem Weg, der sich zum Ende der Straße hin zur Uferwiese öffnet. Boden unter den Füßen. Den Himmel auf den Schultern. Die niedlichen Häuschen, die um ein Winziges gegen ihn zusammengerückt sind. Die Verschwörung der Dinge.
    Reden, reden. Savigny. Über das Zweideutige, Anfechtbare in der Existenz des Dichters. Daß er mit sich selber niemals Ernst machen müsse, da er sich seine eigne Welt, auch die Widerstände, erfinde. Es also immer nur mit den Spiegelungen seiner Einbildung zu tun habe. Kleist denkt, aber er hütet sich, es auszusprechen, von diesen allen hier ist womöglich keiner inniger mit der Welt verbunden als ich. Der Augenschein trügt. Da sagt die Günderrode, als spräche sie für ihn: Menschen, die sich nicht über sich selbst betrügen, werden aus der Gärung einer jeden Zeit Neues herausreißen, indem sie es aussprechen. Mir ist, als ginge die Welt nicht weiter, wenn das nicht getan wird.
    So sehe sie, fragt Savigny, die Tiefe der Zeit als Krater eines Vulkans.
    Das Bild gefällt mir, sagt die Günderrode.
    Clemens, der jetzt an der Spitze der Gruppe geht,

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