Kein Sterbenswort - Kein Sterbenswort - Tell No One
psychologischen als physiologischen Ursprungs sind. Vielleicht hat er Recht. Auf jeden Fall haben sich sowohl die Schmerzen als auch die Schuldgefühle gehalten.
Ich hätte ausweichen müssen. Ich hätte die Schläge kommen sehen müssen. Ich hätte nicht ins Wasser fallen dürfen. Und schließlich, da ich ja offenbar irgendwie die Energie zusammengerafft hatte, mich selbst in Sicherheit zu bringen - hätte mir das mit Elizabeth nicht auch gelingen müssen?
Fruchtlos, ich weiß.
Ich las die Nachricht noch einmal. Chloe fing an zu jaulen. Ich drohte ihr mit dem Finger. Sie wurde still, sah aber wieder abwechselnd die Tür und mich an.
Ich hatte seit acht Jahren nichts von Sheriff Lowell gehört, konnte mich aber noch gut daran erinnern, wie sein von Zweifeln und Sarkasmus geprägtes Gesicht über meinem Krankenhausbett aufgetaucht war.
Was konnte er nach so langer Zeit von mir wollen?
Ich nahm den Hörer ab und wählte. Schon nach dem ersten Klingeln ging jemand ran.
»Dr. Beck. Danke, dass Sie zurückrufen.«
Ich bin kein großer Freund der Rufnummernübermittlung - das geht mir zu sehr in Richtung Big Brother is watching you. Ich räusperte mich und sparte mir die Begrüßungsfloskeln. »Was kann ich für Sie tun, Sheriff?«
»Ich bin gerade ganz bei Ihnen in der Nähe«, sagte er. »Ich würde gerne vorbeikommen und mit Ihnen reden, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Ist das ein Höflichkeitsbesuch?«, erkundigte ich mich.
»Nein, eigentlich nicht.«
Er wartete darauf, dass ich etwas sagte. Den Gefallen tat ich ihm nicht.
»Passt es Ihnen jetzt?«, fragte Lowell.
»Könnten Sie mir mitteilen, worum es geht?«
»Mir wäre es lieber, wenn ich das mit Ihnen direkt …«
»Mir nicht.«
Ich spürte, wie meine Hand den Hörer fester umklammerte.
»Okay, Dr. Beck, dafür habe ich Verständnis.« Seinem ausgiebigen Räuspern merkte man an, dass er versuchte, etwas Zeit zu gewinnen. »Sie haben vielleicht in den Fernsehnachrichten gesehen, dass in Riley County zwei Leichen gefunden wurden.«
Hatte ich nicht. »Was ist mit ihnen?«
»Sie wurden in der Nähe Ihres Grundstücks gefunden.«
»Das Grundstück gehört mir nicht. Es gehört meinem Großvater.«
»Aber Sie sind sein Vormund, nicht wahr?«
»Nein«, sagte ich. »Das ist meine Schwester.«
»Wenn Sie die dann vielleicht auch anrufen könnten. Mit ihr würde ich auch gern sprechen.«
»Die Leichen wurden nicht am Lake Charmaine gefunden, oder?«
»Das stimmt. Wir haben sie auf dem westlich angrenzenden Grundstück gefunden. Es ist Gemeindeeigentum.«
»Was wollen Sie dann von uns?«
Es entstand eine Pause. »Hören Sie, ich bin in einer Stunde bei Ihnen. Es wäre schön, wenn Linda dann auch da wäre, falls sich das einrichten lässt.«
Er legte auf.
Die acht Jahre waren Sheriff Lowell nicht gut bekommen, allerdings war er auch vorher schon kein Mel Gibson gewesen. Er sah aus wie ein verwahrloster Köter, mit so langen, hängenden Gesichtszügen, dass Nixon dagegen wie frisch geliftet wirkte. Seine Nasenspitze war extrem aufgedunsen. Andauernd zog er ein stark gebrauchtes Taschentuch aus der Gesäßtasche, entfaltete es sorgfältig, rieb sich damit die Nase, faltete es ordentlich zusammen und steckte es wieder ein.
Linda war auch da. Sie saß leicht vorgebeugt auf dem Sofa, als wäre sie jederzeit auf dem Sprung, um mich, wenn nötig, in Schutz zu nehmen. So saß sie oft da. Sie gehörte zu den Menschen, die einem ihre volle, ungeteilte Aufmerksamkeit widmen. Sie sah einen mit ihren großen braunen Augen an, so dass man ihrem Blick unmöglich ausweichen konnte. Ich bin natürlich voreingenommen, aber Linda ist der beste Mensch, den ich kenne. Vielleicht ein bisschen altmodisch, aber allein ihre Existenz gibt mir Mut, was die Zukunft unserer Erde betrifft. Ihre Liebe gibt mir das Wenige an Kraft, was ich noch habe.
Wir saßen in der guten Stube meiner Großeltern, die ich normalerweise meide wie der Teufel das Weihwasser. Das Zimmer war stickig, beklemmend und roch noch immer nach Alte-Leute-Sofa. Ich bekam kaum Luft. Sheriff Lowell ließ sich Zeit. Er rieb sich noch ein paar Mal die Nase, zog ein kleines Notizheft aus der Tasche, leckte sich den Finger und suchte die richtige Seite. Er lächelte, so freundlich er konnte, und fing an.
»Können Sie mir sagen, wann Sie das letzte Mal am See waren?«
»Ich war letzten Monat da«, sagte Linda.
Doch er sah mich an. »Und Sie, Dr. Beck?«
»Vor acht Jahren.«
Er nickte, als hätte er mit
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