Keine Lady ohne Tadel
zurückziehen kann«, gluckste Arabella. »Und Bea sollte lieber auch vorgewarnt sein. Sie wird auch lieber ins Dorf fliehen als mit einer Schar bigotter Nadelarbeiterinnen eingesperrt zu sein.«
Esme bedachte sie mit einem finsteren Blick. »Du brauchst dich nicht über mich lustig zu machen.«
»Ich mache mich doch nicht lustig, mein Herz … nun ja, ein bisschen vielleicht. Wäre es dir lieber, wenn ich nach London zurückkehrte, damit du dich deinen ehrbaren Matronen widmen kannst?«
»Nein!« Und Esme wurde bewusst, dass sie es ernst meinte. »Bitte fahre nicht, Tante Arabella. Es ist wirklich wunderbar, dass ich einen Menschen habe, mit dem ich reden kann, gerade jetzt. Nicht, dass ich mir wünschte, Mama wäre –«
»Natürlich wünschtest du, dass deine Mama nicht so eine steife alte Henne wäre!«, fiel Arabella ihr ins Wort. »Meine Schwester ist immer eine Närrin gewesen. Ein rechtes Schaf! Hat es zugelassen, dass du mit Miles Rawlings verheiratet wurdest, ohne dich auch nur einmal zu fragen, ob er dir gefällt. Jeder hätte ihr sagen können, dass ihr beide überhaupt nicht zueinanderpasstet. Fanny hat es nie gelernt, deinem Vater zu widersprechen, und was hat sie jetzt davon? Seit zwei Jahren ist er nun tot, und ist sie etwa aus seinem Schatten getreten? Nein. Sie ist genauso bigott, wie er es war. Das Einzige, woran diese Frau denkt, ist ihr guter Ruf.«
»Das ist aber sehr hart geurteilt«, entgegnete Esme. »Mama hat ein schweres Leben gehabt. Sie ist nie über den Tod meines kleinen Bruders hinweggekommen.«
»Das war natürlich ein großer Kummer, niemand bestreitet das. Er war ein kleiner Engel.«
»Manchmal mache ich mir schreckliche Sorgen um mein Kind«, gestand Esme. »Was ist, wenn es … wenn es …« Sie konnte nicht weitersprechen.
»Das wird nicht passieren«, verkündete Arabella. »Ich werde es nicht zulassen. Ich möchte dir aber eines sagen, Esme. Auch wenn deine Mutter viel Kummer erfahren hat, brauchte sie deswegen doch nicht so anmaßend zu werden.
Werde bitte nicht wie sie, auch wenn du noch so viele gute Absichten hegst. Versprich mir das. Die arme Fanny hat seit Jahren keinen Tag mehr erlebt, ohne auf eine Ungehörigkeit zu stoßen, die ihr das Leben zur Hölle machte. Das ist nämlich das Problem, wenn man zu viel auf seinen guten Ruf gibt: Dann beschäftigt man sich zu sehr mit dem guten Ruf der anderen.«
»Das würde ich niemals tun«, versicherte Esme. »Aber ich habe Miles versprochen, dass sein Kind keine skandalbehaftete Mutter haben wird.«
»Hast es ihm auf dem Sterbebett versprochen, wie? Solche Versprechen habe ich auch schon gegeben.« Arabella schwieg einen Moment.
»Es war nicht gerade ein Versprechen am Sterbebett. Wir hatten ein paar Tage vor seinem Tod darüber gesprochen, wie wir unser Kind aufziehen würden.«
Arabella nickte verständnisvoll. »Es ist schwer, die Wünsche eines Toten nicht zu achten. Da stimme ich dir zu.« Sie schien eine schwermütige Erinnerung abzuschütteln. »Ein Hoch auf das tugendhafte Leben! Deine Mutter wird sehr angetan sein. Eigentlich umso mehr ein Grund, Fairfax-Lacy als Ehemann in Betracht zu ziehen. Er ist ein solches Muster von Anstand, dass er den Ansprüchen deiner Mama genügen würde, aber dennoch kein langweiliger Mann. Wobei mir einfällt, dass wir heute Abend eine schauderhaft langweilige Damenrunde sein werden! Kein einziger Mann weit und breit außer Fairfax-Lacy, falls er rechtzeitig eintrifft, und selbst ich kann nicht einsehen, warum ich mich für einen Mann, der nur halb so alt ist wie ich, in Schale werfen sollte.«
»Er ist nicht halb so alt wie du«, stellte Esme klar. »Nur ein wenig jünger. Du bist erst fünfzig, und er muss bereits in den Vierzigern sein.«
»Zu jung«, lautete Arabellas vernichtendes Urteil. »Du musst wissen, dass ich mir mal einen Liebhaber genommen habe, der zehn Jahre jünger war, und das war alles in allem eine sehr ermüdende Erfahrung. Nach ein paar Tagen musste ich ihn fortschicken. Viel zu anstrengend! Denn die traurige Wahrheit, Liebes, ist, dass ich alt werde!«
Esme raffte ihre zerstreuten Gedanken gerade noch rechtzeitig zusammen, um mit dem erwarteten »Nein!« zu antworten.
»Erstaunlich, aber wahr.« Arabella betrachtete ihr Spiegelbild ohne jeden Anflug von Wehmut. »Eigentlich macht mir das Älterwerden gar nicht so viel aus. Es gefällt mir sogar. Ich bin nicht so wie deine Mutter, die endlos über ihre Wehwehchen klagt.« Sie drehte sich zu Esme um
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