Keine Lady ohne Tadel
Duchesse von Girton, ihren Ehemann dazu gebracht hatte, zu schweigen, und zwar ohne ein Wort zu sagen! Und Cam hatte ihrem Wunsch entsprochen. Erstaunlich. Cam war mit seiner Frau befreundet.
Stephens Mund bildete eine grimmige Linie, während er dem Leinentuch einen letzten Kniff gab. In London gab es keine Frauen wie Gina, klug und dennoch unberührt, die eine tiefe Unschuld besaßen. Eigenschaften, die er sich bei einer Ehefrau wünschte. Doch er zählte bereits dreiundvierzig Jahre, war also zu alt für eine blutjunge Debütantin.
Endlich zog Stephen seinen Rock an und schritt die Treppe hinab. Vielleicht würde er Arbeit vorschützen und morgen in aller Herrgottsfrühe nach London abreisen. Er könnte vielleicht sogar einen Ball bei Almack’s besuchen und ein frisches junges Ding aufgabeln, das sich an seinem Alter nicht stören würde. Immerhin war er, vulgär ausgedrückt, ein guter Fang. Er verfügte über beachtlichen Grundbesitz.
Natürlich wusste er kaum noch, in welchem Zustand sich sein Besitz befand, denn seine Tätigkeit als Abgeordneter ließ ihm wenig Zeit für andere Aufgaben. Plötzlich überfiel ihn eine Sehnsucht nach den müßigen Tagen seiner Jugend, als er mit Cam Schiffchen geschnitzt und stundenlang vergeblich nach Forellen geangelt hatte. Heutzutage fing er lediglich Stimmen.
Was ich brauche,
dachte er unvermittelt,
ist eine Geliebte, denn auf Brautschau zu gehen ist furchtbar langwierig und mühselig.
Eine Mätresse würde seine derzeitige Missstimmung beheben. Zweifellos kam ihm sein Leben nur deshalb so mühselig vor, weil er seit einer Ewigkeit keine Geliebte mehr gehabt hatte.
Stephen blieb stehen und überlegte.
War es tatsächlich ein volles Jahr her, seit er zuletzt das Schlafgemach einer Frau betreten hatte? Wie hatte es nur so weit kommen können?
Zu viele Abende, an denen er in Zigarrenrauch und Whiskynebel über Stimmenfang diskutiert hatte. War es wirklich schon ein Jahr her, seit Maribell ihm einen Abschiedskuss gegeben hatte und mit Lord Pinkerton auf und davon gegangen war? Mehr als ein Jahr. Verdammt.
Kein Wunder, dass er ständig schlechter Laune war. Im Grunde wäre Esme Rawlings’ Haus ein ausgezeichnetes Jagdrevier für eine Mätresse. Mit neu erwachter Begeisterung betrat Stephen den Salon und beugte sich über die Hand seiner Gastgeberin.
»Ich muss für mein aufdringliches Erscheinen um Verzeihung ersuchen, Mylady. Lady Withers versicherte mir, sie betrachte Ihr Haus als ihr eigenes. Ich hoffe doch nicht, dass sie die Tatsachen verdreht?«
Lady Rawlings gab das volltönende, kehlige Lachen von sich, das die Hälfte der Männerherzen Londons verzaubert hatte. Zugegeben, die Schwangerschaft hatte sie unförmig werden lassen, und sie war gewiss nicht auf Verführung aus. Dennoch war sie eine hinreißende Frau. Sie war viel üppiger, als Stephen sie in Erinnerung hatte. Der Anblick ihrer Brüste verursachte einem Mann Schmerz in den Lenden.
Eigentlich
… Stephen rief sich rasch zur Ordnung, bevor das Bild in seiner Vorstellung Gestalt annehmen konnte.
Ich muss wirklich verzweifelt sein,
dachte er, während er ihr die Hand küsste.
Ein gewisser Ausdruck in Lady Rawlings’ Augen ließ ihn befürchten, sie könne seine Gedanken gelesen haben, deshalb wandte er sich rasch der Dame neben ihr zu. Es war schändlich, über eine Frau Fantasien zu entwickeln, die kurz vor ihrer Niederkunft stand.
»Das ist Lady Beatrix Lennox«, stellte Lady Rawlings ihm eine Unbekannte vor. In ihrer Stimme schwang ein seltsamer Unterton mit, als erwartete sie, dass er die junge Frau erkennen würde. »Lady Beatrix, das ist Stephen Fairfax-Lacy, Earl of Spade.«
»Ich mache von meinem Titel keinen Gebrauch«, sagte er und verbeugte sich. Lady Beatrix war offensichtlich unverheiratet, aber ebenso offensichtlich nicht als Ehefrau geeignet. Eine Ehefrau musste ein engelsgleiches Wesen besitzen, musste unschuldig und zerbrechlich sein. Lady Beatrix hingegen machte Stephen den Eindruck einer erfolgreichen Kurtisane. Ihr Mund war eine schmollende Rosenknospe in einer Farbe, die von der Natur nicht vorgesehen war. Und da ihre Haut sehr weiß war und ihre Haare rot, mussten die samtschwarzen Wimpern offensichtlich ebenso falsch sein.
Eine Schönheit, die auf Verführung durch künstliche Mittel setzte. Fast hätte Stephen laut gelacht. War sie nicht genau das, worauf er gehofft hatte? Eine Frau, die das vollkommene Gegenstück zu seiner zukünftigen Gattin bildete? Eine Frau, die er am
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