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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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sie die kalte Pistole durch ihr dünnes T-Shirt
     hindurch spürte. In einer Hand hielt die Ratte die Pistole, die andere krallte sie in Sonjas Schulter.
    Wenn es eine richtige Pistole wäre, würde sie mich nicht so festhalten, dachte Sonja, spannte sich wie eine Saite, richtete
     sich ruckartig auf und schlug mit dem Kopf heftig aufs Geratewohl nach hinten aus.
    Vermutlich hatte sie die Ratte am Kinn getroffen, denn sie war gegen etwas Hartes geprallt. Die Hand an ihrer Schulter lockerte
     sich für einen Augenblick. Sonja stürzte aus dem Auto, sprang über einen flachen Graben und rannte, ohne sich umzusehen, in
     ein Wäldchen.
    Sie hörte: Die Ratte und der Fahrer kamen hinterher, stapfend und laut fluchtend. Irgendwo in der Nähe quietschten Bremsen,
     aber Sonja achtete nicht darauf. Sie stolperte über einen Stein und stieß sich mit voller Wucht den großen Zeh. Sie trug offene
     Sandalen, und es tat höllisch weh.
    »Mama!« schrie Sonja. »Hilfe! Hilfe! Ist da jemand?« Ein paar Meter hüpfte sie auf einem Bein. Nein, so würde sie nicht weit
     kommen …
    Jemand packte sie grob an den Haaren. Sonja wand sich, trat gegen ein Knie. Doch nun war auch die Ratte heran, sie hielten
     Sonja zu zweit. Die Pistolenmündung war auf ihr Gesicht gerichtet.
    Da ertönte ein Schuß. Dann noch einer.
    Sie ist echt, dachte Sonja. Die Pistole ist echt.
    Der blonde Fahrer fiel direkt auf sie. Sie sah seine Augen – ganz weiß, merkwürdig hervorquellend und leer, wie die einer
     Puppe. Neben ihr plumpste etwas zu Boden, schwer und weich. Die Rattenfrau fiel mit dem Gesicht nach unten.
    Die Bäume, die Wolken, ein Stück Chaussee mit dem weinroten Shiguli am Straßenrand – das alles wirbelte aufeinmal pfeifend im Kreis, als säße Sonja in einem Karussell, das sich wie rasend drehte, weil der Karussellführer verrückt
     geworden war. Sie mußte abspringen, aber das würde sie nicht überleben …
    »Hab keine Angst, Sonja, es ist alles vorbei …« Ein Unbekannter hob sie hoch. Sie sah ein junges, beinahe knabenhaftes Gesicht
     vor sich und klare, helle Augen. Ein kleiner Mann in kariertem Hemd hielt sie auf dem Arm. Sie legte die Arme um seinen Hals
     – er war warm und lebendig.
    »Wer sind Sie?« fragte sie, als er sie aus dem Wald getragen und auf den Rücksitz eines gelben Moskwitsch gebettet hatte.
    »Ich heiße Wolodja«, sagte er, setzte sich ans Steuer, ließ den Motor an und wendete. »Wie geht es dir?«
    »Ich weiß nicht. Haben Sie was zu trinken?«
    »Neben dir liegt eine Jacke, in der Tasche ist eine Dose Sprite.«
    »Sind Sie von der Miliz?«
    »Nein, ich bin für mich allein.«
    Sonja griff nach der Jacke aus dünnem hellgrauem Segeltuch und ertastete in der großen Tasche irgendwelche schweren Gegenstände.
    »Vorsicht«, sagte Wolodja, »in der rechten Tasche sind Granaten, die Sprite ist in der linken. Nicht verwechseln.«
    »Granaten – du meinst Granatäpfel?« fragte Sonja.
    »Nein, echte Granaten. Keine Angst, sie explodieren nicht. Aber faß sie trotzdem lieber nicht an. Hast du die Sprite gefunden?«
    Er fuhr sehr schnell in Richtung Moskau und schaute unentwegt auf die Straße.
    »Hab ich. Wozu brauchen Sie denn Granaten?« Sonja öffnete die Dose, trank gierig einige Schlucke und hielt sie dann Wolodja
     hin. »Möchten Sie?«
    Er löste eine Hand vom Steuer, nahm ihr die Dose ab, trank ein wenig und reichte sie ihr zurück.
    »Hast du einen Wohnungsschlüssel?«
    »Ja.« Sonja vergewisserte sich für alle Fälle noch einmal – der Schlüssel lag in ihrer Shortstasche. »Warum?«
    »Wenn wir da sind, bleibst du im Auto. Ich gehe hoch. Ich muß ganz leise in die Wohnung kommen, ohne zu klingeln. Bestimmt
     ist er schon dort. Hauptsache, ich schaffe es.«
    Sonja wußte genau, wen Wolodja meinte, und fragte nur: »Woher wissen Sie, daß er ein Bandit ist?«
    »Er hat meine Familie getötet. Meine Mama, meinen Papa und meine Oma. Die Miliz ist seit drei Jahren vergeblich hinter ihm
     her. Länger sogar.«
    »Und deshalb wollen Sie selber …? Verfolgen Sie ihn schon lange?«
    »Schon lange, Sonja, schon sehr lange.«
    »Sie haben also bei uns auf dem Hof gewartet, gesehen, wie ich ins Auto gezerrt wurde, und sind hinterhergefahren? Woher wissen
     Sie, wie ich heiße?«
    »Das hab ich zufällig mal gehört. Ich kenne auch Vera. Das heißt, nein, kennen stimmt nicht. Aber sie sieht aus wie meine
     Großmutter in ihrer Jugend. Auf alten Fotos.«
    »Wenn Sie wußten, daß er ein Bandit ist, warum

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