Keiner wird weinen
Hof zum Torbogen.
Vera konnte die Leine kaum halten. Im Torbogen blieb der Hund stehen, jaulte laut, beschnüffelte eifrig den Asphalt, lief
zur Wand, heulte auf und kratzte in der Ecke herum. Dann setzte er sich, aufgeregt zitternd, und stupste die Nase in Veras
Hand. Er hielt eine große Haarspange mit einem gefleckten Dalmatiner drauf im Maul.
Noch nie hatte sich Sonja so elend gefühlt. Sie konnte sich nicht bewegen, ihr Körper war wie fremd. Ihr war furchtbarschwindlig, die Augen taten ihr weh, die Zunge war dick angeschwollen und ganz rauh und trocken. Sie glaubte, sie würde gleich
sterben, und das machte ihr solche Angst, daß sie versuchte zu schreien. Doch es wurde nur ein ganz leiser, schwacher Schrei,
wie in einem Alptraum – man will um Hilfe rufen, aber es kommt kein Ton, niemand hört einen.
Um sie herum dröhnte laute Musik. Sie öffnete die Augen einen Spalt und sah Bäume am Fenster vorbeifliegen. Sie dachte: Es
ist nichts weiter, ich bin krank, sie fahren mich ins Krankenhaus. Aber warum ist die Musik so laut?
Doch im nächsten Augenblick erinnerte sie sich: Sie war entführt worden. Diese Leute kamen von Fjodor. Schreien und sich wehren
war zwecklos. Sie könnten sie töten.
Sonja kämpfte Angst und Übelkeit nieder und überlegte, wie sie sich am besten verhalten sollte: so tun, als sei sie noch nicht
wach, oder doch versuchen, die Tür aufzureißen und aus dem Auto zu springen.
Sie lag halb auf dem Rücksitz, den Kopf in den Nacken gelegt und die Beine angezogen. Das Auto fuhr sehr schnell, mindestes
hundertzwanzig. Die Türen waren verriegelt. Neben Sonja saß die dünne Frau mit den gefärbten kurzen Haaren. Ohne den Kopf
zu bewegen, erkannte Sonja ihr spitznasiges Profil. An ihrem Ohr funkelten drei Ohrringe, an ihrem Hals baumelte eine billige
hellblaue Kette. Die Frau war höchstens dreißig. Sie sah Sonja nicht an, sie starrte geradeaus, auf die holprige Moskauer
Vorortchaussee.
Der Mann am Steuer kam Sonja sehr jung vor. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen, nur den akkuraten weißblonden Hinterkopf.
Wenn ihre Hände ihr gehorchen würden, könnte sie ihm einen heftigen Faustschlag versetzen. Aber was hätte sie davon? Sie würden
ihr wieder Gas ins Gesicht sprühen. Obwohl – im Auto war das schwierig, selbst bei offenen Fenstern. Vielleicht würden sie
sie verprügeln und fesseln. Die Frau mit den drei Ohrringen sah aus wie eine Ratte. Mit einem gefesselten Kind durch die Stadt
zu fahren,hätten sie vermutlich nicht riskiert – wenn sie nun von der Verkehrsmiliz angehalten wurden? So sah es aus, als sei das Kind
eingeschlafen. Aber nun waren sie nicht mehr in der Stadt, sondern auf einer menschenleeren Chaussee. Nun konnten sie Sonja
sehr wohl fesseln und ihr den Mund zukleben.
Wenn Vera nach Hause kommt, verständigt sie bestimmt gleich die Miliz. Sie weiß garantiert sofort, was los ist, aber auf der
Miliz muß sie erst alles lange und umständlich erklären, eine Anzeige schreiben. Bis die Fahndung ausgelöst ist, haben sie
mich längst irgendwo versteckt.
Übelkeit stieg in ihr hoch. Sie fühlte, daß sie sich gleich übergeben mußte. Sie schluckte krampfhaft. Die Frau wandte sich
ihr zu. Ja, sie sah wirklich aus wie eine Ratte. Niedrige Stirn, spitze Nase, böse kleine Augen.
»Ich muß gleich brechen«, sagte Sonja.
»He, sie versaut mir das ganze Auto!« sagte der Fahrer nervös. »Hast du eine Tüte dabei?«
»Ich kann nicht mehr«, stöhnte Sonja, »halten Sie an.«
Sie konnte sich durchaus beherrschen, spürte aber, wie besorgt der Fahrer um sein Auto war. Also sollte er ruhig anhalten.
Weit würde Sonja zwar nicht kommen, aber vielleicht waren da ja irgendwelche Leute …
Die Frau griff in ihre Handtasche, und Sonja erblickte eine kleine Pistole.
Eine Gaspistole, dachte sie, aber vielleicht auch eine richtige. Geladen … Au weia!
»Keine Tricks«, sagte die Ratte warnend. »Du brauchst nich aussteigen. Ich mach dir die Tür auf. Uns is egal, ob du tot bist
oder lebendig. Kapiert?«
Sonja kapierte und war furchtbar wütend. So wütend, daß die Übelkeit wie weggeblasen war.
Das Auto fuhr auf den Randstreifen. Sonja löste die Türverriegelung und öffnete die Tür. Die Ratte preßte ihr die Pistolenmündung
in den Rücken.
Ich denke einfach, es ist nur eine Gaspistole, sagte sich Sonja, sonst kann ich mich nicht rühren.
Sie streckte langsam ein Bein aus dem Auto und beugte sich ein wenig vor, wobei
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