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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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wehte stark vom Meer her, als die Maschine hart auf dem Flugplatz bei Visby aufsetzte. Der Wind erfaßte ihren Mantel, als sie geduckt ins Flughafengebäude eilte. Ein Mann mit einem Schild nahm sie in Empfang. Auf der Fahrt in die Stadt sah sie an den Bäumen, wie stark der Wind war, er würde die meisten Blätter abreißen. Es findet eine Feldschlacht zwischen den Jahreszeiten statt, dachte sie, eine Feldschlacht, deren Ausgang von vornherein feststeht.
    Das Hotel hieß Strand und lag am Hang, der vom Hafen anstieg. Sie hatte ein Zimmer ohne Fenster zum Marktplatz bekommen und bat die Frau an der Rezeption enttäuscht, das Zimmer zu tauschen. Sie bekam ein anderes Zimmer, das zwar kleiner war, aber zur richtigen Seite wies, und sie stand vollkommen still, als sie ins Zimmer trat und durchs Fenster hinaussah. Was sehe ich? dachte sie. Was hoffe ich? Was soll da draußen geschehen?
    Sie hatte eine wiederkehrende Beschwörungsformel. Ich bin vierundfünfzig Jahre alt. Bis hierher bin ich gekommen, wohin führt mein Weg jetzt, wenn der Weg endet?
    Sie sah eine alte Dame, die sich auf der windigen Steigung mit ihrem Hund abmühte. Sie fühlte sich mehr wie der Hund als wie die Frau in dem grellroten Mantel.
    Kurz vor vier am Nachmittag ging sie zur Hochschule, die am Wasser lag. Es war ein kurzer Weg, und sie hatte noch Zeit, um eine Runde durch den verlassenen Hafen zu gehen. Das Wasser peitschte gegen die steinerne Pier. Es hatte eine andere Farbe als das Meer um das griechische Festland und die Inseln herum. Es ist wilder hier, dachte sie. Rauher, ein junges Meer, das hitzig das Messer gegen das erstbeste Schiff oder die erstbeste Hafenmauer zieht.
    Der Wind war noch immer stark, vielleicht böiger jetzt. Eine Fähre war auf dem Weg hinaus durch die Hafeneinfahrt. Sie war ein pünktlicher Mensch. Es war ebenso wichtig, nicht zu früh zu kommen, wie nicht zu spat zu kommen. Ein freundlicher Mann mit einer operierten Hasenscharte empfing sie am Eingang. Er gehörte zu den Veranstaltern, stellte sich vor und sagte, sie seien sich schon einmal begegnet, vor vielen Jahren, aber sie konnte sich nicht an ihn erinnern. Sie wußte, daß es zu den am schwersten zu erlernenden menschlichen Fähigkeiten zählte, jemanden wiederzuerkennen. Gesichter verändern sich, oft bis zur Unkenntlichkeit. Aber sie lächelte ihn an und sagte, sie erinnere sich, sehr gut sogar.
    Sie versammelten sich in einem unpersönlichen Seminarraum, sie waren zweiundzwanzig Personen, steckten sich ihre Namensschildchen an, tranken Kaffee und Tee und lauschten anschließend den Ausführungen eines lettischen Dr. Stefanis, der das Seminar in holprigem Englisch mit einem Bericht über kürzlich gemachte Funde minoischer Keramik eröffnete, die bemerkenswert schwer zu bestimmen war. Sie begriff nicht, was daran so schwer zu bestimmen war, minoisch war mi-noisch, und damit basta.
    Sie merkte bald, daß sie nicht zuhörte. Sie war noch immer unten in der Argolis, umgeben vom Duft von Thymian und Rosmarin. Sie betrachtete die Menschen, die an dem großen ovalen Tisch saßen. Wer von ihnen hörte zu, wer war wie sie, teilweise sich selbst entrückt, in eine andere Wirklichkeit? Sie kannte niemanden am Tisch, abgesehen von dem Mann, der behauptet hatte, ihr in der Vergangenheit schon einmal begegnet zu sein. Es waren Teilnehmer aus den skandinavischen und baltischen Ländern, dazu ein paar Feldarchäologen wie sie selbst.
    Dr. Stefanis schloß abrupt, als könnte er sein eigenes schlechtes Englisch nicht mehr ertragen. Nach dem Applaus kam es zu einer kürzeren und äußerst friedlichen Diskussion. Nach einigen praktischen Erklärungen für den kommenden Tag war der Einleitungsabend des Seminars beendet. Als sie das Gebäude verlassen wollte, wurde sie von einem Unbekannten gebeten, noch zu bleiben, weil der Fotograf einer Lokalzeitung einige zufällig zusammengetriebene Archäologen fotografieren wollte. Er notierte ihren Namen, dann konnte sie fliehen, hinaus in den starken Wind.
    In ihrem Zimmer schlief sie auf dem Bett ein und wußte zunächst nicht, wo sie war, als sie die Augen wieder aufschlug. Sie müßte Henrik anrufen, beschloß aber, damit bis nach dem Essen zu warten. Draußen auf dem Marktplatz ging sie in eine willkürlich gewählte Richtung und landete in einem Kellerrestaurant, in dem wenige Gäste saßen. Aber das Essen war gut. Sie trank einige Gläser Wein, spürte erneut Unbehagen bei dem Gedanken daran, daß sie ihr Verhältnis mit Vassilis

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