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Ketchuprote Wolken

Ketchuprote Wolken

Titel: Ketchuprote Wolken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annabel Pitcher
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kann man ja nicht sprachlos sein, aber wenn es so wäre, wenn meine Hand eine große Zunge wäre, dann wäre sie auf jeden Fall so verschlungen wie diese komplizierten Knoten, die nur Pfadfinder beherrschen. Oder dieser Kerl aus dem Fernsehen, der mit der wilden Mähne, der Survival-Touren macht und dann irgendwo im Dschungel auf einem Baum schläft und zum Abendessen Schlangen isst. Aber da fällt mir ein, dass Sie wahrscheinlich gar nicht wissen, wen ich meine. Haben Sie Fernsehen im Todestrakt? Und wenn ja, schauen Sie dann auch britische Sendungen oder nur amerikanische?
    Na ja, Fragen an Sie sind eigentlich sinnlos. Selbst wenn Sie mir schreiben wollten, ginge das nicht, denn die Adresse auf dem Brief ist erfunden. Es gibt nirgendwo in England eine Fiction Road. Sie brauchen sich also nicht einzubilden, dass Sie aus dem Gefängnis türmen und aus heiterem Himmel hier auftauchen und Ausschau halten könnten nach einem Mädchen namens – nun, sagen wir mal, ich heiße Zoe.
    Ich habe Ihre Kontaktdaten auf der Website eines Todestrakts gefunden. Und auf die bin ich gekommen durch eine Nonne, und ich hätte nie gedacht, dass ich mal so einen Satz schreiben würde, aber mein Leben ist ganz anders geraten, als ich mir das vorgestellt hatte. Auf der Website war ein Foto von Ihnen, und ich fand, Sie sahen ziemlich nett aus für jemanden, der einen orangen Overall tragen muss und einen kahlrasierten Kopf, eine dicke Brille und eine große Narbe auf der Wange hat. Ich habe mir auch noch andere Profile angeschaut. Es gibt Hunderte von Verbrechern, die sich eine Brieffreundschaft wünschen. Hunderte. Aber Sie sind mir aufgefallen. Diese Geschichte über Ihre Familie, die Sie enterbt hat, und dass Sie elf Jahre lang keine Post bekommen haben. Und dann die ganze Sache, dass Sie mit Ihrer Schuld nicht fertigwerden.
    Ich glaube nicht an Gott, aber ich bin zur Beichte gegangen, um meine Schuld loszuwerden. Vorher hatte ich mehrmals bei Wikipedia nachgelesen, dass der Priester sich auf keinen Fall an die Polizei wenden darf. Aber als ich dann im Beichtstuhl saß und seine Umrisse durch das Gitter sah, brachte ich keinen Ton heraus. Ich konnte mich nicht einem Mann anvertrauen, der sein ganzes Leben lang nichts falsch gemacht hat außer sich vielleicht mal an einem schlechten Tag einen Schluck zu viel vom Kommunionswein zu genehmigen. Es sei denn, er war einer dieser Priester, die mit Kindern rummachen. Dann wäre er natürlich im Bilde gewesen über die Sünde, aber da ich das nicht genau wusste, bin ich kein Risiko eingegangen.
    Bei Ihnen ist das viel ungefährlicher. Und ehrlich gesagt: Sie erinnern mich ein bisschen an Harry Potter. Ich weiß nicht mehr, wann das erste Buch erschien, vor oder nach Ihrem Mordprozess, aber falls Sie es nicht kennen: Harry Potter hat eine runde Brille und eine Narbe, und Sie haben eine runde Brille und eine Narbe, und er hat auch nie Post erhalten. Doch dann bekam er plötzlich einen geheimnisvollen Brief, in dem stand, dass er ein Zauberer sei, und von da war sein Leben wundersam verwandelt.
    Wenn Sie das in Ihrer Zelle lesen, werden Sie sich wahrscheinlich fragen »Erfahre ich jetzt auch, dass ich Zauberkräfte habe?«, und ich denke mir, dass Sie dann bestimmt jede einzelne Stichwunde im Körper Ihrer Frau heilen wollen. Tut mir jetzt echt leid, dass ich Sie enttäuschen muss, ich bin eben nur ein gewöhnliches Mädchen, nicht die Leiterin einer Schule für Hexerei und Zauberei. Aber glauben Sie mir, wenn dieser Kuli ein Zauberstab wäre, dann würde ich Ihnen die Kraft geben, Ihre Frau wieder zum Leben zu erwecken weil ich nämlich weiß, wie Sie sich fühlen.
    Bei mir war es keine Frau. Sondern ein Junge. Und ich habe ihn umgebracht. Auf den Tag genau vor drei Monaten.
    Und wollen Sie wissen, was das Schlimmste ist? Niemand hat es herausgefunden. Niemand weiß, dass ich schuld war an seinem Tod. Keiner ahnt etwas. Ich bin ungestraft davongekommen und schaffe es nicht, Mum oder Dad oder meinen Schwestern davon zu erzählen, weil ich nicht enterbt werden will. Und ich will auch nicht ins Gefängnis, obwohl ich es verdient hätte. Sie sehen also, Mr Harris, ich bin viel weniger mutig als Sie, und deshalb sollten Sie sich auch nicht schlecht fühlen, wenn Sie dann die Todesspritze kriegen. Auf der Website steht, dass Sie sich selbst niemals vergeben werden, aber nun wissen Sie wenigstens, dass es Menschen auf der Welt gibt, die noch viel schlimmer sind als Sie. Sie waren mutig genug, Ihr

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