Ketten der Liebe
befürchtete, Sie wären taub oder stumm. Und Sie waren vollkommen ausgehungert.«
»Sie gaben mir zu essen.« Amy hob die angewärmte Decke an und bedeutete der alten Dame mit einladender Geste, ins Bett zu steigen.
»Und die ersten Worte, die Sie sprachen, waren »Haben Sie keine Angst, dass ich Sie im Schlaf ermorde ?«
»Ich bin eben immer sehr charmant.« Amy musste über sich selbst lachen und dachte unweigerlich über die Absurdität ihrer gegenwärtigen Lebenssituation nach. »Der Marquess von Northcliff würde mir beipflichten.«
»Er kennt Sie noch nicht, meine Liebe. Sobald er Sie näher kennengelernt hat, wird er sich in Sie verlieben wie all die anderen Burschen hier im Dorf.« Miss Victorine seufzte, als sie sich ins Bett legte. »Sie taten mir so leid. Sie hatten niemanden auf der Welt, der Sie beschützte oder sich um Sie kümmerte. Ich wollte Sie gleich unter meine Fittiche nehmen und Sie immer hierbehalten.«
»Sie sind die netteste Dame auf der ganzen Welt.« Amy wusste, wovon sie sprach. Seit ihrem zwölften Lebensjahr hatte sie die große weite Welt kennengelernt, zumeist zusammen mit ihrer Schwester Clarice, aber die letzten beiden Jahre war sie auf sich allein gestellt gewesen. Sie hatte schreckliche Dinge gesehen, hatte Grausamkeit und Verachtung erlebt, Armut und Gewalt.
Nie war sie einem Menschen begegnet, der so freundlich und gut war wie Miss Victorine.
»In dieser Hinsicht ist Lord Northcliff genauso verloren, wie Sie es waren«, sagte die alte Dame in traurigem Ton.
Amy hätte am liebsten ein wütendes Schnauben von sich gegeben, aber das wäre nicht sehr damenhaft gewesen.
»Es ist wahr.« Miss Victorine legte die dünnen Kissen in ihrem Rücken zurecht. »Als seine Mutter uns verließ, war Jermyn gerade sieben. Nie habe ich einen kleinen Jungen gesehen, der mehr litt. Sein Vater war ein guter Mann, aber er wurde mit dem Verlust seiner Frau nicht fertig. Er zog sich in sich zurück, zeigte keine Gefühle mehr, nicht einmal Zuneigung seinem Sohn gegenüber. Er lehrte Jermyn die Pflichten eines zukünftigen Marquess und brachte ihm bei, ein Mann zu sein. Niemand nahm den kleinen Jungen in den Arm, niemand tröstete ihn, wenn er sich verletzt hatte, niemand liebte ihn.«
Amy begriff nicht, warum Miss Victorine diese Dinge für so wichtig hielt. Sie konnte sich nicht an ihre eigene Mutter erinnern, und wenn ihre königliche Großmutter sie in den Arm genommen hätte, wäre Amy an Frostbeulen gestorben. Doch selbst ohne die kleinen liebevollen Zuwendungen, die Miss Victorine als so unerlässlich erachtete, war Amy ohne seelische Störungen herangewachsen. Und die paar Eigenarten, die zu ihrem Wesen gehörten, waren dem Durchsetzungsvermögen geschuldet, mit dem Amy den Unwägbarkeiten des Lebens trotzte.
Miss Victorine beharrte nicht darauf, ihre Ansichten weiter auszuführen. Die alte Dame schien anzunehmen, dass die Leute einsahen, wie wichtig die Liebe war, und dass man selbst mit Mistkerlen wie Lord Northcliff nachsichtig sein musste ... und mit verlorenen Seelen wie Amy.
Miss Victorine hatte sonst niemanden mehr auf der Welt. Weder Verwandte noch Freunde, die die gleichen Interessen hatten wie sie, doch mit ihrer freundlichen und zuvorkommenden Art war sie die gute Seele des Dorfes und wirkte wie das Gewissen, an dem sich alle Bewohner von Summerwind orientierten. Ohne es offen ansprechen zu müssen, hatte sie Amy gezeigt, wie wichtig eine Familie war ... und seit Kurzem fragte Amy sich, ob ihre Entscheidung, die Schwestern in Schottland zurückzulassen, richtig gewesen war. Vielleicht war ihr Vorsatz, sich auf eigene Faust durchzuschlagen, doch keine so vernünftige Idee, sondern eher Ausdruck jugendlicher Rebellion.
Amy und Clarice hatten den Anschluss an die Familie verloren. Ihr Vater war gestorben, und ihre älteste Schwester war irgendwo in England verschwunden. Großmutter war weit weg, die Schwestern hatten kein Geld, flohen von einer Stadt zur nächsten, fühlten sich nirgends richtig heimisch und hatten Angst, länger an einem Ort zu verweilen. Die meisten Leute hielten die jungen Prinzessinnen für Landstreicher und Diebe. Frauen verjagten sie mit Besen von den Haustüren. Lüsterne Männer stellten ihnen zwar Essen und ein Dach über dem Kopf in Aussicht, verlangten jedoch eine widerwärtige Art der Bezahlung.
Ja, Miss Victorine hatte Amy in mancherlei Hinsicht gerettet. Sie hatte ihr das Leben gerettet, und mehr noch: Sie hatte sie vor der bitteren
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