Ketten der Liebe
wird es morgen wieder besser gehen, wenn das Lösegeld eintrifft. Dann ist er frei«, sagte Miss Victorine heiter.
»Morgen?« Für einen Augenblick vergaß er Amy und ihre Weigerung, sich seinen geheimen Fantasien anzupassen. »Glauben Sie, das Geld kommt schon morgen?«
»Wenn Ihr Onkel sich an die Anweisungen hält, dann wird das Lösegeld morgen übergeben, und Sie werden freigelassen.« Amy lächelte ihn zufrieden an.
Sie genoss es, Macht über ihn zu haben. Es gefiel ihr, wenn die Männer ihre Befehle befolgten. Sie war eben nicht weich und lieblich und hübsch, wie er die Frauen haben wollte. Sie war klug und hatte eine scharfe Zunge. Ihr Gesicht war eher apart als hübsch, und er hätte schwören können, dass sie nie lächelte, aber das stimmte nicht ganz: Entweder lächelte sie selbstzufrieden oder liebevoll.
Aber ihr Lächeln war nur dann zärtlich, wenn sie Miss Victorine ansah. Kein Zweifel, sie war der alten Dame von Herzen zugetan. Aber wie waren diese beiden ungleichen Frauen bloß auf den widersinnigen Gedanken verfallen, Geld aus ihm herauszupressen? Er glaubte nämlich nicht, dass Miss Victorine bettelarm war.
Er warf einen Blick auf die nette alte Dame im Schaukelstuhl. Eine vergilbte Haube bedeckte Miss Victorines weißes Haar. Er erkannte das Schultertuch wieder, das sie trug - dieses Muster hatte er bewundert, als er ein Junge war. Jetzt war der Saum eingerissen. Sie hatte sich das Tuch eng um die Schultern gezogen, als wäre ihr kalt, aber als er Amy aufforderte, mehr Kohlen nachzulegen, hielt Miss Victorine sie zurück und meinte, es sei warm genug. Die alte Dame war ein wenig in ihren Bewegungen eingeschränkt, und Jermyn entdeckte einen blauen Fleck an ihrem Unterarm, weil er sie zu grob angefasst hatte. Aber ihre schrumpeligen Finger waren immer noch flink genug für die Perlstickerei.
Die Spitzenarbeit wuchs so langsam, wie Amy es behauptet hatte.
Vermutlich hatte Amv in einer Hinsicht recht. Vielleicht hatte Onkel Harrison sich doch nicht um die gute Miss Victorine gekümmert, und unweigerlich fragte Jermyn sich, ob sein Onkel auch bei anderen Dingen allzu nachlässig gewesen war. Jermyn hätte ein Auge auf die Verwaltung der Güter haben sollen. Und wenn sich herausstellte, dass Onkel Harrison sich wirklich um nichts gekümmert hatte, könnte Jermyn vielleicht Nachsicht mit der unfreundlichen Amy üben ... und über die Gefangennahme hinwegsehen.
Er küsste sie zärtlich auf die Stirn und strich ihr über die Arme und über die Fülle ihrer Röcke. Sein Mund suchte ihre Lippen , als sie ihn mit einem Lächeln um Verzeihung bat...
Von neuem Verlangen erfasst, bewegte er seinen Springer.
»Mylord, das war ein unbedachter Zug, und ich ... oh!« Sie beugte sich vor und konzentrierte sich auf das Spielbrett. »Wie klug von Ihnen. Diese Zugfolge ist mir noch nicht begegnet. Lassen Sie mich nachdenken, was ich dagegen tun kann.«
Klug? War das klug gewesen? Vielleicht hatte seine ausschweifende Fantasie seinen Geist doch noch nicht ganz umnebelt.
Er blinzelte!
Woher war ihm dieser Gedanke gekommen?
Er warf einen Blick auf die junge Frau. Warum fragte er sich das überhaupt? Schon nach einem Tag hatte Amy sich in seine Gedankenwelt geschlichen. Kein Zweifel, sie übte einen geheimen Einfluss auf ihn aus. Ohne sie wäre er vermutlich nie auf den Gedanken gekommen, dass er seine Pflichten vernachlässigt hatte.
»Und wie komme ich frei?« Er hoffte auf einen schlecht durchdachten Plan der Frauen. Denn dann würde er sich ihnen ungemein überlegen fühlen.
»Nachdem Miss Victorine und ich weit genug fort sind ...«, begann Amy.
»Sie suchen also das Weite?« Es klang leicht spöttisch.
»Natürlich verlassen wir die Insel, damit Sie uns nicht öffentlich auspeitschen lassen können.« Mit ihrem Sarkasmus und ihrem scharfen Verstand forderte sie ihn heraus.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er uns öffentlich auspeitschen lassen würde, meine Liebe.« Steile Falten zeichneten sich zwischen Miss Victorines Brauen ab. »Das wurde, glaube ich, mit der Streckbank abgeschafft. Ich denke, Lord Northcliff wäre schon zufrieden, wenn er uns an den Galgen bringt.«
»Ist das wahr, Mylord?« Amy lachte ihn freimütig an.
Wer war bloß diese Frau mit dem leichten Akzent und der scharfen Zunge?
Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Schachbrett. Mit einem vielsagenden Blick und bedeutungsvollem Unterton forderte er sie heraus. »Es gibt noch andere Möglichkeiten, eine Frau
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