Tod einer Strohpuppe: Kriminalroman
Montagmorgen
Tom Fletcher lockerte seine Krawatte. Sein Hals war feucht, was nur zum Teil der sommerlichen Hitze zuzuschreiben war. Der
Fotograf machte eine weitere Aufnahme, mit Blitzlicht, trotz des Sonnenscheins, der durch die Glasfenster im Dach strömte.
Er trat zurück und wandte sich Fletcher zu.
»Ist das Ihre schlimmste Leiche bisher?«
Fletcher nickte. In seinen acht Jahren bei der Polizei von Cambridge hatte er noch keine grässlicheren Verstümmelungen gesehen.
Er verscheuchte eine Fliege von seinem Gesicht.
Er stand in einem großen, hangarähnlichen Gebäude, das als Ausstellungsraum für landwirtschaftliche Maschinen diente. Vor
ihm befand sich ein gelbes Absperrband der Spurensicherung, dahinter waren in einem Halbkreis Traktoren aufgestellt. Mit ihren
Scheinwerfern, die wie Augenpaare wirkten, sahen sie fast so aus, als würden sie etwas in ihrer Mitte beobachten.
Im Zentrum des Halbkreises stand ein anderes Gerät. Es war ein Holzschredder zum Zerhacken dicker Äste – eigentlich nur eine
Anzahl beweglicher Messer unter einem Trichter, der groß genug für einen Menschen war. Und tatsächlich steckte ein Mensch
in dem Ding. Oben ragte ein Paar Beine heraus, die Füße unnatürlich verdreht. Fletcher fiel etwas auf.
Die Schuhe. Er betrachtete sie genauer.
Es waren die Beine eines jungen Mannes namens Jake Skerrit, eines zweiundzwanzigjährigen Hochschulabsolventen. Jake hatte
als Management-Trainee für Breakman Machinery gearbeitet, eine Firma, die in den Fens, der Marschlandschaft imNorden Cambridges, mit landwirtschaftlichen Geräten handelte. Alle Mitarbeiter hatten übereinstimmend ausgesagt, dass Jake
häufig Überstunden gemacht und oft am Sonntagabend im Bürogebäude über seinen Unterlagen gesessen habe. Außerdem habe er gern
mit gefährlichen Maschinen herumgespielt. Heute war Montag. Jakes Leiche war von dem Wachmann gefunden worden, der das Gebäude
jeden Morgen aufschloss.
Die Leiche war nicht vollkommen geschreddert, weil sich ein Sicherheitsschalter umgelegt hatte, als die Messer die Schultern
erreichten. Daher war das Gesicht, das gegen die stählerne Einlassöffnung gequetscht war, noch teilweise erhalten – doch die
Messer hatten die Arme zerhackt und einen Teil der Schädelpartie abgetrennt. Unter dem Trichter, dort, wo das Gerät normalerweise
das geschredderte Holz ausspie, war der Boden mit menschlichen Überresten bedeckt: Haare, Knochensplitter, zwei vollständig
erhaltene Finger, eine Ärmelmanschette und etwas, das wie ein Ohrläppchen aussah. Unter dem Schredder hatte sich eine Blutlache
gesammelt, die inzwischen fast eingetrocknet war und die Konsistenz von Straßenteer hatte. Es wimmelte von Fliegen.
Fletcher starrte wie gebannt auf Jakes Schuhe.
Er nahm an, dass die Leute von Health and Safety, der staatlichen Behörde für Arbeitsschutz, ein Verfahren wegen der Verletzung
von Sicherheitsvorschriften anstrengen würden, weil die Breakman-Mitarbeiter die Fahrzeuge und Maschinen immer mit angesteckten
Zündschlüsseln stehen ließen. Doch es sah so aus, als handelte es sich wirklich um ein Unglück – einen jener rund sechzig
tödlichen Unfälle mit landwirtschaftlichen Maschinen, die jährlich in Großbritannien verzeichnet wurden. Der Polizeiarzt war
nur der Form halber hinzugezogen worden und auch die von ihm veranlasste Autopsie war reine Routine. Fletcher hatte mit seinen
anderen Fällen schon mehr als genug zu tun, und vielleicht hätte er dashier am besten auf sich beruhen lassen, vielleicht hätte auch seine Anwesenheit eine reine Formsache bleiben sollen – doch
die Schuhe ließen ihm keine Ruhe.
Er sah zu, wie die Kollegen von der Spurensicherung in ihren weißen Papieranzügen das Absperrband aufrollten und der Fotograf
seine Ausrüstung zusammenpackte. Zwei verdrießlich wirkende Typen betraten die Halle. Hinter vorgehaltener Hand wurden sie
von den Polizisten die Knochenmänner genannt. Sie waren Spezialleute eines Bestattungsunternehmens aus Cambridge. Der eine
trug einen Leichensack und der andere hatte eine Schaufel in der Hand.
Fletcher wandte sich ab, doch die Schuhe ließen ihn nicht los. Er warf einen Blick auf die oben an der Decke angebrachte Überwachungskamera,
die genau auf den Schauplatz des Unfalls ausgerichtet war. Ein Lämpchen daran blinkte rot.
Breakman Machinery hatte für diesen Tag geschlossen, die schockierten Angestellten waren von der Polizei befragt und
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