Kill Order
ging alles rasend schnell.
Im Fußraum auf der Beifahrerseite entstand Bewegung. Er schwang sich hoch und feuerte drei Schüsse ins Dunkel, die im Poltern der Eisenräder untergingen. Ein Schrei flaute auf und erstarb abrupt. Er sah, wie eine Waffe hinab in den Schnee stürzte. Noch während er sich umdrehte, traf ihn ein schwerer Gegenstand am Hinterkopf. Er prallte mit der Stirn gegen die Dachkante des Wagens. Jemand umklammerte sein Handgelenk und entwand ihm die Beretta. Er bekam den Arm des anderen zu fassen und stieß ihn beiseite. Ein Schuss krachte, aber ging ins Leere. Die Explosion so dicht an seinem Ohr löschte für einen Moment alle anderen Geräusche aus. Finger rissen an seinem Shirt und tasteten nach seiner Kehle. Er rammte dem Mann ein Knie in den Unterleib, packte auch mit der zweiten Hand den Arm, verdrehte ihn. Ein Hieb in die Nieren trieb ihm die Tränen in die Augen. Doch er ließ nicht los. Er schleuderte seinen Gegner herum und stieß ihn rücklings gegen den Wagen. Er legte seine Finger über die Finger des anderen, presste sie auf den Abzug herunter, schob die Mündung mit einem Ruck noch weiter herum. Der Schuss explodierte so dicht an seinem Kopf, dass ihm die Ohren klingelten. Korditgeruch und das metallische Aroma von Blut stiegen ihm in die Nase. Der Mann rutschte zu Boden. Nikolaj entwand ihm die Waffe und machte einen Schritt zurück. Im abklingenden Rattern des Zuges glaubte er Polizeisirenen zu hören.
Er drehte sich um und lief mit weit ausgreifenden Schritten die Straße hinunter. Kein Mensch hielt ihn auf. Nur langsam sickerte ihm ins Bewusstsein, dass Francesco ihn aufs Kreuz gelegt hatte. Dass es niemanden gab, dem er jetzt noch trauen konnte. Dass er mit einer Schusswunde in der Schulter durch die Nacht taumelte, während die ganze Welt hinter ihm her war und seine eigenen Leute versuchten, ihn zu töten.
Er biss die Zähne aufeinander, bis es schmerzte. Alles, was ihn noch auf den Beinen hielt, war das Adrenalin. Er warf die Pistole auf den Beifahrersitz des gestohlenen Ford und ließ den Gurt einrasten. Während er um die Kurve in eine Seitenstraße rollte, sah er, wie zwei Polizeifahrzeuge in die Bahnhofsstraße bogen. Im Rückspiegel fleckte Blaulicht den Schnee.
Das Refugium
Das semitische Wort Qadisha bedeutet heilig – Wadi Qadisha heißt ‚ Heiliges Tal’ . Der Wadi Qadisha im Nordl i banon gilt seit alters her als Zufluchtsstätte für Verfolgte. Seit dem frühen Mittelalter versteckten sich Christen in den u n zähligen Höhlen des Tals vor der Verfolgung durch Ander s gläubige. Im Lauf der Jahrhunderte wurden zahlreiche Kape l len und Klöster an seinen Abhängen errichtet. Noch heute sind viele der heiligen Stätten von Mönchsgemeinschaften b e wohnt.
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Wadi Qadisha | Libanon. Sommer 2005, vier Jahre später
S
chiefergrau senkte sich der Himmel über die Mauern. Ein Sturm trieb Schnee vor sich her und beugte die alten Libanon-Zedern, die auf den Felsen über dem Kloster Fuß gefasst hatten. Die Pigmente, mit groben Pinselstrichen aufgetragen, bildeten ein zerklüftetes Relief.
Feine Graustufen flossen ineinander, die Schatten schwarz, das Schneegestöber schmutzig weiß, der einzige Tupfer Farbe das Grün der Zedernkronen. Die Leinwand war auf einen Holzrahmen genagelt, mannshoch und einen Meter breit. Sonnenlicht fiel durch das gegenüberliegende Fenster und spaltete das Bild in zwei Hälften.
Einer der Besucher sagte etwas, das Bruder Gratien nicht verstand. Sie kamen aus Italien, hatte der Abt gesagt, Besucher von der Kunstakademie in Mailand. Gratien beherrschte ein paar Brocken Italienisch, deshalb hatte der Abt ihn als Führer bestimmt, aber er konnte den schnell gesprochenen Sätzen nicht folgen.
Unter den Besuchern war eine junge Frau, die sich als Azizah Abourjeili vorgestellt hatte und fließend Arabisch sprach. Der alte Mönch war froh darüber, auch wenn ihre Art, ihn direkt anzusehen, ihm Unbehagen bereitete.
Azizah drehte sich zu ihm um. „Zeigen alle diese Bilder das Kloster?“
Gratien nickte höflich.
„Meine Freunde bewundern sie“, fuhr sie fort. „Wer ist der Maler?“
„Sein Name ist Nicolá Martin. Er ist ein sehr großzügiger Mann. Er hat die Bilder unserem Orden geschenkt.“
„Nicolá Martin?“ Azizah legte den Kopf schräg. „Erzählen Sie mir etwas über ihn.“
Gratien lächelte verlegen. „Da gibt es nicht viel, was ich Ihnen sagen könnte. Er verbringt viel Zeit bei uns, um zu
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