Kind 44
deshalb ja auch woanders verübt. Sein Bruder hatte eine gespaltene Persönlichkeit entwickelt, einerseits seine bürgerliche Existenz und daneben das Leben eines Mörders. Aber auch Leo selbst hatte ja sein Leben in zwei Hälften geteilt. Da war einerseits der Junge, der er gewesen war, und andererseits der Junge, zu dem er geworden war.
Leo schüttelte unwillig den Kopf. Er musste sich auf seine Aufgabe konzentrieren. Er war hier, weil er diesen Mann töten wollte. Die Frage war nur, wie er an den anderen Bewohnern vorbeikommen sollte. Weder er noch Raisa hatten eine Schusswaffe.
Raisa spürte sein Zögern und fragte: »Worüber machst du dir Kopfzerbrechen?«
»Über die anderen Leute im Haus.«
»Du hast doch das Gesicht dieses Mannes gesehen.
Wir haben uns das Foto angeschaut. Du kannst dich einfach da hineinschleichen und ihn im Schlaf töten.«
»Das bringe ich nicht über mich.«
»Leo, er verdient nichts Besseres.«
»Erst muss ich sicher sein. Ich muss mit ihm reden.«
»Er wird es doch nur abstreiten. Je länger du mit ihm redest, umso schwerer wird es.«
Sara hatte ihnen ein Messer gegeben. Leo hielt es Raisa hin. »Das werde ich nicht benutzen.«
Raisa schob es ihm wieder zu.
»Leo, der Mann hat über 40 Kinder auf dem Gewissen.«
»Dafür bringe ich ihn ja auch um.«
»Und wenn er sich verteidigt? Der hat doch bestimmt ein Messer, vielleicht sogar eine Pistole. Und vielleicht ist er kräftig.«
»Er ist kein Kämpfer. Er ist tapsig und schüchtern.«
»Leo, woher willst du das denn wissen? Nimm das Messer mit! Willst du ihn etwa mit bloßen Händen umbringen?«
Leo drückte ihr das Messer in die Hand und schloss ihre Finger darum. »Du vergisst, dass ich so was gelernt habe. Vertrau mir.«
Es gab keine Zukunft für sie. Keine Hoffnung auf Entrinnen, keine Hoffnung, dass sie nach den Ereignissen dieses Abends noch lange zusammen sein würden.
Raisa stellte fest, dass sie tief in ihrem Innern gar nicht wollte, dass dieser Mann zu Hause war. Sie wollte, dass er unterwegs war, auf irgendeiner Reise. Dann hätten sie einen Grund, weiter zusammenzubleiben und ihrer Gefangennahme noch für ein paar Tage zu entgehen. Danach konnten sie ja zurückkehren und die Sache zu Ende bringen. Im nächsten Moment schämte sie sich für den Gedanken und schob ihn beiseite. Wie viele Menschen hatten ihr Leben riskiert, nur damit Leo bis hierhin gelangte. Sie küsste ihn und hoffte, dass er es schaffte.
Während Raisa in ihrem Versteck blieb, näherte Leo sich dem Haus. Vorher hatten sie sich auf einen Plan geeinigt. Wenn der Mann versuchen würde zu fliehen, würde sie ihn stellen. Falls etwas schiefging und Leo es aus irgendeinem Grund nicht schaffte, dann würde sie selbst versuchen, den Mann zu erledigen.
Leo erreichte die Haustür. Von drinnen fiel ein fahles Licht heraus. War da etwa noch jemand wach? Vorsichtig drückte er gegen die Tür, die sofort aufging. Er fand sich in einer Küche mit einem Herd wieder. Das Licht kam aus einer Öllampe, ein Flämmchen, das hinter einem rußigen Glasschirm flackerte. Er trat ein und schlich durch die Küche in ein Nebenzimmer. Zu seiner Überraschung gab es nur zwei Betten. In einem schliefen zwei kleine Mädchen, in dem zweiten ihre Mutter.
Sie waren allein, von Andrej keine Spur. War das die Familie seines Bruders? Und wenn ja, war es dann auch Leos Familie? War das seine Schwägerin? Waren das seine Nichten? Aber vielleicht wohnte unten ja noch eine Familie? Leo wandte sich um. Eine Katze starrte ihn mit zwei kalten, grünen Augen an. Ihr Fell war schwarzweiß gefleckt. Sie war zwar besser im Futter als die aus dem Wald, die sie damals gejagt und getötet hatten, aber die Zeichnung stimmte. Leo kam sich vor wie in einem Traum. Überall Bruchstücke seiner Vergangenheit. Die Katze zwängte sich durch eine zweite Tür und lief nach unten. Leo ließ sich von ihr führen.
Die schmale Treppe in den Keller war nur schwach erleuchtet. Die Katze lief hinunter und war im nächsten Moment verschwunden. Von der obersten Treppenstufe war der Raum schlecht einzusehen. War Andrej vielleicht gar nicht zu Hause? Leo schlich möglichst geräuschlos die Treppe hinab.
Als er unten war, spähte er um die Ecke. An einem Tisch saß ein Mann. Er hatte eine dicke, eckige Brille auf und trug ein sauberes weißes Hemd. Er spielte Karten. Jetzt sah er hoch. Er schien nicht überrascht zu sein, er stand auf. Leo starrte auf die Wand hinter seinem Bruder. Es sah aus, als wachse aus
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