Kind 44
Nachbar und Freund, in seiner Verzweiflung aufgemacht, die staatliche Kornkammer zu plündern.
Er war nicht zurückgekehrt. Am nächsten Morgen hatten Nikolais Frau und Oksana sich auf die Suche nach ihm gemacht. Sie hatten seine Leiche am Straßenrand gefunden, den Bauch aufgedunsen von rohem Getreide, das der Verzweifelte kurz vor dem Tod in sich hineingestopft hatte. Nichts hatte es gebracht, außer dass er auf dem Heimweg verhungert war, auf dem Rücken im Schnee ausgestreckt, als sei er hochschwanger.
Eine zum Skelett abgemagerte Leiche mit einem gewölbten, aufgeblähten Bauch. Seine Frau hatte geweint, während Oksana die übriggebliebenen Getreidekörnier aus seinen Taschen geholt und zwischen ihnen beiden aufgeteilt hatte. Bei ihrer Rückkehr hatte Nikolais Frau es allen erzählt, aber sie wurde nicht etwa bedauert, sondern beneidet. Alles, woran die Leute denken konnten, waren die paar Handvoll kostbaren Getreides, die sie nun besaß. Wie konnte man nur so dämlich sein? Sie hatte sie beide in Gefahr gebracht.
Oksanas Gedanken wurden durch das Getrappel rennender Füße unterbrochen. Niemand rannte, außer es gab wichtige Neuigkeiten. Ängstlich stand sie auf.
Pavel kam ins Zimmer gestürzt und verkündete: »Mutter, ich habe eine Katze gesehen!«
Oksana machte einen Schritt auf ihn zu und umklammerte die Hände ihres Sohnes. Sie musste sich vergewissern, dass er sich nichts einbildete. Der Hunger konnte einen zum Narren halten. Aber in seinem Gesicht zeigte sich kein Anzeichen von Delirium. Die Augen waren scharf, der Ausdruck ernst. Pavel war erst zehn Jahre alt und doch schon ein Mann. Die Umstände erforderten, dass er seine Kindheit überspringen musste. Sein Vater war höchstwahrscheinlich tot. Und wenn er nicht wirklich tot war, dann zumindest für sie.
Er hatte sich nach Kiew aufgemacht in der Hoffnung, etwas Essbares heimzubringen. Zurückgekehrt war er nicht und Pavel hatte schnell verstanden, dass sein Vater auch nicht mehr wiederkommen würde. Man hatte es ihm weder beibringen noch ihn trösten müssen. Jetzt war Oksana auf ihren Sohn ebenso sehr angewiesen wie er auf sie. Sie waren Partner und Pavel hatte mit lauter Stimme geschworen, dass ihm gelingen werde, woran sein Vater gescheitert war: Er werde dafür sorgen, dass die Familie am Leben blieb.
Oksana berührte die Wange ihres Sohnes. »Könntest du sie fangen?«
Er lächelte stolz. »Wenn ich einen Knochen hätte.«
Der Teich war zugefroren und Oksana wühlte im Schnee auf der Suche nach einem Stein. Aus Sorge, dass der Lärm Aufmerksamkeit erregen würde, wickelte sie den Stein in ihren Schal, um das Geräusch abzudämpfen, während sie ein kleines Loch ins Eis schlug.
Sie legte den Stein weg und machte sich auf das schwarze, eiskalte Wasser gefasst. Als sie hineingriff, stockte ihr der Atem. In ein paar Sekunden würde ihr Arm taub werden, also beeilte sie sich. Ihre Hand erreichte den Grund, aber sie fühlte nur Schlamm. Wo war sie nur? Mit wachsender Panik lehnte Oksana sich vor, tauchte den ganzen Arm ein, tastete links und rechts, während sie schon das Gefühl in der Hand verlor. Ihre Finger strichen über Glas. Erleichtert umfasste Oksana die Flasche und zog sie heraus. Ihre Haut hatte sich dunkelblau verfärbt, so als hätte man sie verprügelt. Egal, sie hatte gefunden, wonach sie gesucht hatte: eine mit Teer versiegelte Flasche. Oksana wischte den Schlamm ab und besah sich den Inhalt. Es war eine Ansammlung kleiner Knochen.
Als sie ins Haus zurückkehrte, stellte sie fest, dass Pavel in ihrer Abwesenheit das Feuer geschürt hatte.
Oksana erwärmte über den Flammen das Siegel, der Teer tropfte in dicken, klebrigen Klecksen in die Glut.
Während sie warteten, bemerkte Pavel ihre blau angelaufene Haut und rieb ihren Arm, um die Durchblutung anzuregen. Der gute Junge! Als der Teer abgeschmolzen war, drehte Oksana die Flasche um und schüttelte sie. Mehrere Knochen sammelten sich im Hals. Oksana pulte ein paar heraus und hielt sie ihrem Sohn hin.
Pavel musterte sie aufmerksam, kratzte an ihrer Oberfläche und schnüffelte an jedem einzelnen. Schließlich wählte er einen aus und wollte schon loslaufen, als sie ihn zurückhielt.
»Nimm deinen Bruder mit.«
Pavel hielt das für einen Fehler. Sein jüngerer Bruder war ungeschickt und langsam. Und außerdem war das seine Katze. Er hatte sie gesehen, und er würde sie auch fangen. Der Triumph gehörte ihm. Doch seine Mutter drückte ihm einen zweiten Knochen in die Hand:
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