Kind 44
unterbrach er ihn. »Andrej, du hast doch selbst eine Familie. Da oben habe ich deine Kinder gesehen. Sie sind genauso wie die Kinder, die du umgebracht hast. Du hast zwei schöne kleine Mädchen.
Kannst du denn nicht begreifen, dass das, was du gemacht hast, falsch war?«
»Es war notwendig.«
»Nein.«
Wütend schlug Andrej mit beiden Fäusten auf den Tisch. »Rede nicht in so einem Ton mit mir! Du hast kein Recht, dich aufzuregen. Du hast dir nie die Mühe gemacht, mich zu suchen. Du bist nie zurückgekommen. Ich wusste, dass du lebst und dich keinen Deut um mich scherst. Vergiss doch den dummen, tollpatschigen Andrej. Der bedeutete dir ja nichts. Du hast mich mit einer komplett wahnsinnigen Mutter in einem Dorf voller verwesender Leichen zurückgelassen. Du hast kein Recht, über mich zu urteilen!«
Leo starrte in das wutentstellte Gesicht seines Bruders, das plötzlich wie verwandelt war. War dies das Gesicht, das die Kinder gesehen hatten? Was hatte sein Bruder nur durchgemacht? Welche unvorstellbaren Qualen? Aber die Zeit für Mitleid und Verständnis war schon lange verstrichen. Andrej wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Es war die einzige Möglichkeit, wie ich dich dazu bringen konnte, nach mir zu suchen. Die einzige Möglichkeit, deine Aufmerksamkeit zu erlangen. Du hättest ja nach mir suchen können. Aber das hast du nicht gemacht. Du hast mich von deinem Leben abgekoppelt, mich aus deiner Erinnerung verbannt. Der glücklichste Moment in meinem Leben war der, als wir damals zusammen die Katze gefangen haben, du und ich. Wenn wir zusammen waren, hatte ich nie das Gefühl, dass die Welt ungerecht ist, auch wenn wir nichts zu beißen hatten und es bitterkalt war. Aber dann bist du weggegangen.«
»Andrej, ich habe dich nicht verlassen. Ich wurde entführt. Ein Mann im Wald hat mir eins übergezogen. Ich wurde in einen Sack gesteckt und verschleppt. Ich hätte dich nie im Stich gelassen.«
Andrej schüttelte den Kopf. »Das hat unsere Mutter auch immer gesagt. Aber das ist gelogen. Du hast mich verraten.«
»Ich wäre fast umgekommen. Der Mann, der mich verschleppt hat, wollte mich töten. Sie wollten mich an ihren Sohn verfüttern. Aber als wir bei ihnen ankamen, war der Junge schon gestorben. Ich hatte eine Gehirnerschütterung, konnte mich nicht mal an meinen eigenen Namen erinnern. Es hat Wochen gedauert, bis ich mich davon erholt hatte. Und da war ich längst in Moskau. Wir waren in die Stadt gegangen, sie mussten ja etwas zu essen finden. Ich habe an dich gedacht, und an unsere Mutter. Ich habe an unser gemeinsames Leben gedacht. Aber was hätte ich denn machen sollen?
Ich hatte gar keine andere Wahl. Ich musste sehen, wie ich klarkam. Es tut mir leid.« Jetzt entschuldigte er sich auch noch.
Andrej nahm die Karten und mischte sie. »Du hättest nach mir suchen können, als du älter warst. Hättest dich ein bisschen bemühen können. Ich habe meinen Namen nicht geändert. Ich wäre leicht zu finden gewesen, vor allem für einen Mann mit deinen Verbindungen.«
Das stimmte. Leo hätte seinen Bruder ausfindig machen können, er hätte nach ihm forschen können. Aber er hatte versucht, die Vergangenheit zu begraben. Und jetzt hatte sich sein Bruder in sein Leben zurückgemordet.
»Andrej, mein ganzes Leben lang habe ich versucht, was geschehen war, zu vergessen. Ich bin in der Angst aufgewachsen, meine neuen Eltern damit zu konfrontieren. Ich traute mich nicht, sie an früher zu erinnern, weil ich die Zeit nicht wieder heraufbeschwören wollte, als sie mich hatten töten wollen. Jede Nacht bin ich schweißgebadet hochgeschreckt, weil ich befürchtete, sie hätten es sich vielleicht anders überlegt und würden mich nun doch lieber umbringen. Ich habe getan, was ich nur konnte, damit sie mich nur lieb gewannen. Es ging ums nackte Überleben.«
»Du wolltest doch immer schon deiner eigenen Wege gehen, ohne mich, Pavel. Du wolltest mich früher schon immer loswerden.«
»Weißt du denn, warum ich hergekommen bin?«
»Du bist gekommen, um mich zu töten. Warum sollte ein Jäger sonst kommen? Und wenn du mich erst umgebracht hast, wird man dich lieben und mich hassen.
So wie immer.«
»Bruder, ich werde als Verräter gesucht, nur weil ich versucht habe, dich aufzuhalten.«
Andrej schien ehrlich überrascht. »Warum das denn?«
»Sie haben deine Morde anderen Leuten in die Schuhe geschoben. Viele Unschuldige sind direkt oder indirekt durch deine Verbrechen umgekommen. Begreifst du das?
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