Kind 44
Leo sehen konnte, beschäftigte die Firma gegenwärtig fünf Tolkatschi. Der Erfolg ihrer gesamten Ermittlungen hing jetzt von diesen Akten ab. Nervös überprüfte Leo die Arbeitseinsätze der Männer. Wo hatte man sie hingeschickt, und wann?
Wenn diese Daten mit den Morden übereinstimmten, dann hatte er den Mörder gefunden, jedenfalls ging er davon aus. Wenn es genügend Übereinstimmungen gab, würde er den Mann aufsuchen und mit den Taten konfrontieren. Er war sich sicher, wenn man es ihm auf den Kopf zusagte, würde der Mann zusammenbrechen.
Leo fuhr mit den Fingern über die Liste und verglich die Daten und Orte mit denen in seinem Gedächtnis.
Die erste Liste passte nicht. Er hielt einen Moment inne und fragte sich, ob sein Erinnerungsvermögen überhaupt noch intakt war. Aber die drei Daten, die er niemals vergessen würde, waren die Morde in Wualsk und der in Moskau. Dieser Tolkatsch hier war nie irgendwo entlang der Transsibirischen Eisenbahn unterwegs gewesen. Leo öffnete die zweite Akte und sah sich die Geschäftsreisen an. Der Mann hatte erst im letzten Monat angefangen. Leo schob die Akte beiseite und öffnete die dritte. Passte nicht. Jetzt waren nur noch zwei übrig. Er blätterte die vierte durch.
Wualsk, Molotow, Wjatka, Gorki – all diese Städte säumten die Eisenbahnlinie nach Westen. Südlich von Moskau fand er Tula und Orel, in der Ukraine Karkow und Gorlowka, Saporoschje und Kramatorsk. In all diesen Städten waren Kinder ermordet worden. Er schloss die Akte. Bevor er sich die persönlichen Daten ansah, warf er noch einen Blick in die fünfte Akte. Er fuhr die Liste entlang und konnte dabei kaum seinen Finger ruhig halten. Es gab ein paar Übereinstimmungen, aber nicht genügend. Leo wandte sich wieder der vierten Akte zu. Er blätterte vor zur ersten Seite und starrte ein Schwarzweißfoto an: Er trug eine Brille. Er hieß Andrej.
Am selben Tag
Wassili saß rauchend auf seinem Hotelbett, ließ die Asche auf den Teppich fallen und trank direkt aus der Flasche. Er machte sich keine Illusionen. Wenn er seinen Vorgesetzten nicht die Flüchtigen lieferte, Leo und Raisa, dann würde man den Tod von Fjodor Andrejew mit Sicherheit sehr ungnädig aufnehmen. Das war die Vereinbarung gewesen, die er ihnen abgerungen hatte, bevor er aus Moskau aufgebrochen war. Sie würden seiner Geschichte Glauben schenken, dass Fjodor mit Leo zusammengearbeitet hatte, und auch, dass Fjodor Wassili hatte angreifen wollen, als der ihn mit der Wahrheit konfrontiert hatte. Aber nur dann, wenn er ihnen Leo brachte. Die Tatsache, dass sie nicht in der Lage waren, dieses unbewaffnete, mittellose Pärchen zu fassen, das wie vom Erdboden verschluckt zu sein schien, ließ den MGB nicht gerade gut dastehen. Wenn Wassili die beiden schnappte, würden sie ihm all seine Sünden vergeben. Die Behörden bereiteten sich schon auf den Fall vor, dass Leo sich bereits außer Landes und in den Fängen westlicher Diplomaten befand. Die eigenen Auslandsagenten waren informiert und Fotos von Leo und seiner Frau an alle Botschaften rund um die Welt geschickt worden. Es wurden bereits Szenarien für seine Ermordung entwickelt. Wenn Wassili ihnen die Mühe ersparte, eine kostspielige und diplomatisch schwierige internationale Hatz in die Wege zu leiten, dann war die Belohnung dafür eine weiße Weste.
Er ließ den Zigarettenstummel auf den Teppich fallen und sah einen Moment lang zu, wie er schwelte, bevor er ihn austrat. Er hatte Kontakt mit der Staatssicherheit in Rostow aufgenommen, einem verlotterten Haufen.
Er hatte ihnen Fotos gegeben. Er hatte den Beamten eingeschärft, daran zu denken, dass Leo sich vielleicht einen Bart stehen lassen oder sich die Haare abgeschnitten hatte. Vielleicht waren die beiden auch gar nicht mehr gemeinsam unterwegs, vielleicht hatten sich ihre Wege getrennt. Außerdem sollten sie sich nicht auf die Papiere der Leute verlassen, denn Leo wusste, wie man solche Sachen fälschte. Sie sollten jeden festhalten, der ihnen auch nur im Entferntesten verdächtig vorkam. Die letzte Entscheidung, ob man die Leute wieder laufen ließ oder nicht, würde Wassili selbst treffen. Mit ihren 30 Männern hatten sie eine Reihe von Straßensperren errichtet und einige willkürliche Durchsuchungen durchgeführt. Er hatte jeden Beamten angewiesen, sämtliche Vorkommnisse zu dokumentieren, egal wie unwichtig sie erscheinen mochten, damit er sie selbst noch einmal überprüfen konnte.
Diese Berichte wurden ihm jetzt Tag und
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