Kind 44
Augen aber waren wachsam, sie rechneten mit Gefahr. Soja nahm die Hand ihrer kleinen Schwester.
»Das ist Raisa. Sie ist Lehrerin.«
»Guten Tag, Soja. Hallo, Elena. Setzt euch doch zu uns.
Im Sitzen redet es sich viel bequemer.«
Leo nahm zwei Stühle und stellte sie neben die Mädchen. Sie zögerten zwar, sich von der Tür wegzubewegen, setzten sich dann aber doch. Dabei hielten sie sich immer noch an den Händen und sagten keinen Ton.
Leo und Raisa kauerten sich so tief hin, dass sie zu den beiden aufschauen mussten. Die Fingernägel der Mädchen waren pechschwarz, aber ansonsten waren ihre Hände sauber. Offensichtlich hatte man sie vor dem Zusammentreffen noch rasch aufpoliert.
Leo begann. »Meine Frau und ich möchten euch ein Zuhause anbieten. Euer Zuhause.«
»Mein Mann hat mir erzählt, warum ihr hier seid. Es tut mir leid, wenn es euch aufwühlt, darüber zu reden, aber wir müssen etwas Wichtiges mit euch besprechen.«
Leo war verstört. Er hatte zwar versucht, den Mord an den Eltern der Mädchen zu verhindern, aber er hatte es nicht geschafft. Vielleicht sahen sie keinen Unterschied zwischen ihm und Wassili! Er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln.
»Vielleicht denkt ihr, dass es euren Eltern gegenüber treulos wäre, wenn ihr bei uns wohnt. Aber ich glaube, gerade eure Eltern würden das Beste für euch wollen.
Und wie das Leben im Waisenhaus ist, wisst ihr ja nach den vier Monaten hier selbst am besten.«
Raisa sprach für ihn weiter. »Wir verlangen euch eine schwierige Entscheidung ab. Ihr seid beide noch klein.
Leider müssen Kinder manchmal schon Entscheidungen treffen wie Erwachsene. Wenn ihr hier bleibt, dann wird euer Leben schwer, und später wird es wahrscheinlich auch nicht leichter.«
»Meine Frau und ich wollen eure Beschützer sein. Wir möchten uns um euch kümmern, euch zu essen und ein Zuhause geben!«, unterbrach Leo sie.
Lächelnd erklärte Raisa weiter: »Wir erwarten keine Gegenleistung. Ihr braucht uns nicht zu lieben. Ihr müsst uns noch nicht einmal unbedingt mögen, obwohl wir natürlich hoffen, dass ihr das irgendwann doch tut. Benutzt uns einfach, um hier herauszukommen.«
Leo nahm an, die Kinder würden ablehnen, deshalb fügte er hinzu: »Wenn ihr nein sagt, dann werden wir versuchen, eine Familie für euch zu finden, die nichts mit eurer Vergangenheit zu tun hat. Wenn euch das lieber wäre, könnt ihr uns das ruhig sagen. Soja, Elena, was passiert ist, kann ich leider nicht mehr rückgängig machen. Aber wir können euch eine bessere Zukunft bieten. So bleibt ihr zusammen und bekommt euer eigenes Zimmer.
Trotzdem werde ich immer der Mann sein, der damals auf euren Hof gekommen ist. Vielleicht wird die Erinnerung mit der Zeit schwächer, aber vergessen werdet ihr es nie. Das macht unser Zusammenleben vielleicht schwieriger, aber aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es trotzdem klappen kann.«
Die Mädchen saßen schweigend da und starrten abwechselnd Leo und Raisa an. Die ganze Zeit hatten sie keinerlei Regung gezeigt und sich nicht vom Fleck gerührt, waren nur still auf ihren Stühlen sitzen geblieben und hatten sich an den Händen gehalten.
Raisa fügte hinzu: »Ihr könnt ja oder nein sagen. Ihr könnt uns auch bitten, eine andere Familie für euch zu finden. Es liegt ganz bei euch.«
Leo stand auf. »Meine Frau und ich gehen jetzt ein bisschen spazieren. Dann könnt ihr die Sache mal unter euch besprechen, nur ihr beide. Keiner wird euch stören. Entscheidet, wie ihr mögt. Ihr braucht keine Angst zu haben.«
Leo ging um die Mädchen herum und öffnete die Tür.
Raisa stand auf und trat auf den Flur hinaus, Leo folgte ihr und schloss die Tür. Gemeinsam gingen sie den Flur hinunter, so nervös wie noch nie in ihrem Leben.
***
Als sie allein waren, umarmte Soja ihre kleine Schwester.
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